Gallup-Chef Michael Nitsche.

Foto: Gallup

Wien – In den vergangenen Jahren war es meistens umgekehrt: Headquarters sind gegangen. Jetzt hat Wien ein renommiertes gewonnen – das in 76 Ländern ansässige Gallup-Institut hat nun seinen Sitz bei Michael Nitsche, der als Österreich-Eigentümer und bis jetzt Vice President im Board der Organisation damit auch an deren Spitze steht.

In der über 70-jährigen Geschichte der global tätigen Markt- und Meinungsforscher ist es ungewöhnlich, dass einer, der erst ein paar Jahre dabei ist, diese Steuerungsfunktion erhält. Das spricht für Nitsche – aber auch für den gewaltigen Umbruch in der Branche, die in massiv gewandelten Rahmenbedingungen jetzt die richtigen Fragen an riesige Datenmengen zu stellen hat und den Datenproduzenten ganz anders zuleibe rücken muss, um Dahinterliegendes zu ergründen. Von den Möglichkeiten der Marktforschung in Echtzeit und den online jederzeit für alle verfügbaren Umfrage-Tools abgesehen. Ihm traut man die fortlaufende Transformation offenbar zu.

In den Familienbetrieb

Gut möglich, dass der früher gerne mit den schmückenden Beinamen des "erfolgreichsten Werbers" Titulierte demnächst Selbige auch für diese Branche erhält.

Der Weg war jedenfalls sicher kein Spaziergang. Übernommen hat er das österreichische Institut 2014 von Sophie Karmasin, nachdem sie in die Politik gewechselt war und eine ursprünglich quasi interimistische Lösung nicht wirklich geklappt hatte. Ein guter Teil der Aufträge aus der politischen Klientenschaft war weggebrochen. In eigenen Worten: "Ich habe ein traditionelles Familienunternehmen in einer schwierigen Situation übernommen, drei Jahre lang entstaubt und saniert." Nitsche sieht das als "steile Lernkurve" und als "gern gemachte Erfahrung".

Wobei: Was konkrete Zahlen des aktuell 20-köpfigen Kernteams in Wien betrifft, bleibt er diskret. Dass die Performance auf dieser Ebene nicht stimmt, ist angesichts seiner aktuellen Wahl zum obersten Chef allerdings eher schwer vorstellbar. Geplant sei das nicht gewesen – ebenso wenig seine Karriere in der Werbung. 1996 hat er als Account Director bei Saatchi & Saatchi begonnen, 2001 wurde er Geschäftsführer, dann CEO. 2008 hat er sich selbstständig gemacht.

Nachdem er Markt- und Meinungsforschung bei Fritz Karmasin im Gallup-Institut gelernt hatte, dachte der Betriebswirtschafts-, Politik-, Soziologie- und Kommunikationswissenschaftsabsolvent an eine wissenschaftliche Laufbahn. Nach fünf Jahren als Lektor und Uni-Assistent an der WU war Nitsche offenbar auf der Suche nach einer Betätigung außerhalb der bekannten Komfortzone.

Was er jetzt weiterentwickelt, hat auch mit dieser Art der Selbstherausforderung zu tun. Werber wollte er nicht mehr sein, sagt er. Allerdings kann er, was er dort perfekt geübt hat – zuhören, Menschen zum Erzählen bringen, Sales, das Führen von Experten in komplexen Organisationen –, jetzt natürlich auch gut brauchen. Er setzt es auch als leidenschaftlicher Diskutierer ein – gekonnt und nicht aufdringlich, unprätentiös und mit spürbarer Freude an dem, was er tut.

Wertekanon

Getragen ist er nahezu missionarisch – das ursprüngliche Anliegen des Gründungsvaters George Gallup, nämlich Demokratie zu fördern, sei "so relevant wie nie". "Gerade jetzt, in Zeiten der Echokammern und Bubbles, ist es wichtig, auch anderes hörbar zu machen und zum Ausbalancieren des gesellschaftlichen Diskurses beizutragen, einen Beitrag zu leisten, damit Diskurse versachlicht werden können, und zur gesellschaftlichen Weiterentwicklung beitragen können."

Gibt es ein Geheimnis des so genannten Erfolges? "Vieles geht über Zuhören", sagt Nitsche, der selbiges mit zwei Metern Körpergröße in freundlich zugewandter Haltung pflegt. Er zählt keine Errungenschaften auf, er spricht kaum in den im Management so oft üblichen Ich-Sagern, fragt unaufdringlich und beobachtet fokussiert, ohne schnell Kommentare abzugeben. Was ihn zur Hochform bringe, sei der Wunsch, "die Wahrheit herauszufinden".

Ein großes Wort – vielleicht auch zuzuschreiben dem Umstand, dass mit der neuen Funktion auch ein neues Büro bezogen wurde, über das er sich merklich freut: Statt der Karmasin-Villa im Cottage sitzen Gallup International und Gallup Österreich jetzt am Wiener Lobkowitzplatz nächst der Albertina, dort, wo zuvor die Redaktion der "Furche" werkte. (Karin Bauer, 17.1.2018)