Wie ein Gitter aus Koordinatenpunkten überzogen im Frühling 2015 die Kadaver von Saiga-Antilopen die kasachische Steppe. Binnen Wochen starben 200.000 Tiere.
Foto: Saiga Health Monitoring

London/Wien – Nach einem halben Jahrhundert Naturdokumentationen im Fernsehen denken die meisten beim Wort Antilope unwillkürlich an die Savannen Ostafrikas. Dabei sind die trockenen Steppen Zentralasiens Heimat von Antilopenmassen, mit deren Zahlen kaum eine afrikanische Spezies mithalten kann: Saigas. In besseren Zeiten sind ihre Bestände in die Millionen gegangen. Doch leider scheint diese Art auch eine fatale Neigung zu schlechten Jahren zu haben.

2015 war so ein Jahr. Anstatt mit wogenden Herden war die kasachische Steppe im Spätfrühling mit Kadavern übersät – angeordnet in einem Muster von bizarr anmutender Regelmäßigkeit, wie ein internationales Forscherteam in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins "Science Advances" berichtet. Über unzählige Quadratkilometer hinweg waren die toten Saigas in einem Abstand von jeweils 30 bis 50 Meter zueinander verstreut. Sie lagen dort, wo sie wenige Stunden zuvor noch gegrast hatten.

Binnen Wochen waren 200.000 Saiga-Antilopen in der Region Betpak-Dala, der Hungersteppe, tot. Das entsprach zugleich 60 Prozent des damaligen Gesamtbestands der ansonsten nur noch in Russland und der Mongolei vorkommenden Spezies. Das Massensterben war so umfassend, dass das Forscherteam um Richard Kock vom Royal Veterinary College in London bei der Gewebeentnahme nicht einmal das formale Gebot von Zufallsstichproben und Vergleichen mit gesunden Exemplaren einhalten konnte: Es waren nämlich schlicht und einfach alle Saigas aus den betroffenen Populationen gestorben.

Auf Ursachensuche

Als Hauptverdächtiger galt bereits bei den ersten Untersuchungen 2015 Pasteurella multocida. Dieses Bakterium kann bei Paarhufern die Hämorrhagische Septikämie auslösen, die zu Blutungen und schließlich zum Tod führt. Saigas haben sich in der Vergangenheit als besonders anfällig für Pasteurella gezeigt – allerdings tragen auch viele Tiere das Bakterium in sich, ohne krank zu werden. Wie die ständige Präsenz des Bakteriums in plötzliche Ausbrüche mit einer Letalität von hundert Prozent umschlagen kann, gab Rätsel auf. In allen seit 2015 durchgeführten Studien wurde daher ein unbekannter Umweltfaktor mitverantwortlich gemacht.

Mit einem interdisziplinären Ansatz hat sich das Team um Kock auf die Suche nach diesem Faktor X gemacht. Gewebeanalysen bestätigten zwar die Rolle von Pasteurella. Hinweise auf andere Krankheiten, etwa durch Viren oder Parasiten, die die Saigas vorab geschwächt und anfällig gemacht haben könnten, wurden jedoch nicht entdeckt. Auch der Ernährungszustand der Saigas lag im grünen Bereich.

Wärme tötet Eiszeitwesen

Ein Muster fanden die Forscher schließlich bei der Analyse von Wetterdaten. Die Werte von Betpak-Dala im Jahr 2015 ähnelten jenen aus Regionen, in denen es 1981 und 1988 ebenfalls zu Saiga-Massensterben – wenn auch nicht ganz so verheerenden – gekommen war. In allen drei Fällen war die Witterung ungewöhnlich warm und feucht gewesen.

Saigas haben sich während der Eiszeit entwickelt. In diesem für sie Goldenen Zeitalter waren sie von den Atlantikküsten Europas ostwärts in einem breiten Gürtel, der sich um die ganze Erde zog, bis nach Nordamerika verbreitet. Ihre rüsselartig verlängerte Schnauze, die sie von allen anderen Antilopenarten unterscheidet, bereitet die Luft auf und filtert Staub aus – eine Anpassung an kalte und trockene Bedingungen. Warmfeuchtes Klima scheint ihnen hingegen nicht zu bekommen.

Welcher Mechanismus genau das fatale Zusammenspiel zwischen Wetter, Bakterium und Antilope bewirkt, ist laut Kock noch unklar. Wichtiger sei jedoch das Erkennen des Musters als solches: Steigende Temperaturen und erhöhte Feuchtigkeit seien nämlich genau die Tendenzen, die sich in Kasachstan im Zuge des Klimawandels abzeichnen. Weitere Massensterben seien also absehbar, rechtzeitig ergriffene Schutzmaßnahmen könnten diese aber vielleicht abmildern. (Jürgen Doppler, 18.1.2018)

Eine Handvoll Antilope: ein Saiga-Neugeborenes.
Foto: Saiga Health Monitoring