Vor allem im Dienstleistungssektor, unter Verkäufern, Bürokräften, Friseuren, Hilfsarbeitern, Angestellten im Fitnesscenter, gibt es viele Niedriglohnbezieher.

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Wien – Frau L. ist seit mehreren Jahren arbeitslos und bezieht Mindestsicherung. Sie hat zwei Kinder, eines geht in den Kindergarten, das zweite in die Schule. Sie wohnt in einer Gemeindebauwohnung in Wien, hat immer wieder Fortbildungskurse besucht. Sie hat auch einige Bewerbungsgespräche geführt – zustande gekommen ist aber nie etwas. Das lag nicht nur an den Arbeitgebern, wie Frau L. bekennt. Neben der Betreuung der beiden Kinder hätte sie kaum mehr als 25 Stunden arbeiten können. Und das hätte sich finanziell nicht rentiert.

Planen ÖVP und FPÖ einen Anschlag auf Arbeitslose, oder erhöhen sie nur den Druck auf Menschen, die es sich in der sozialen Hängematte bequem gemacht haben? Über diese Frage wird seit Veröffentlichung des türkis-blauen Regierungsprogrammes heftig gestritten. Die Parteien erwägen, die Notstandshilfe abzuschaffen und in die Mindestsicherung zu integrieren. Damit soll der Druck auf Menschen steigen, sich eine Arbeit zu suchen. Im Kern dreht sich die Debatte letztlich um die Frage, ob Leistungen, die arbeitslose Menschen in Österreich beziehen können, zu hoch, zu niedrig oder gerade angemessen sind.

Zu niedrige Löhne

Die Problematik lässt sich freilich auch aus einem anderen Blickwinkel betrachten. So könnte es sein, dass nicht die Sozialleistungen zu hoch, sondern die Marktlöhne zu gering sind, und zwar besonders für Menschen wie L., die nicht Vollzeit arbeiten können und über keinen Uni- oder Lehrabschluss verfügen, also mit hoher Wahrscheinlichkeit keinen hochbezahlten Job finden.

Im europäischen Vergleich ist der Anteil jener Menschen, die in Österreich besonders wenig verdienen gering. Aber immerhin 15 Prozent, und damit jeder siebente Beschäftigte in der Privatwirtschaft, gehören zur Gruppe der Niedrigverdiener. Das geht aus der umfassendsten Untersuchung zum Thema hervor, die von der Statistik Austria im November 2017 veröffentlicht wurde. Zur Gruppe der Niedriglöhner zählen laut gängiger Definition der Statistiker Menschen, die weniger als zwei Drittel des Medianlohnes verdienen. Median bedeutet, dass die Hälfte der Personen mehr, die andere Hälfte weniger verdient.

Im Mittel lag der Verdienst innerhalb des Niedriglohnsektors bei 8,31 Euro brutto in der Stunde. Für einen Vollzeitbeschäftigten bedeutet dies einen Nettomonatsverdienst von rund 1170 Euro, wenn jemand nur 25 Stunden arbeitet, entspricht dies um die 760 Euro im Monat (14-mal).

Zum Vergleich: Die Mindestsicherung in Wien, wo rund die Hälfte der Bezieher lebt, liegt derzeit bei 844 Euro. Hinzu kommen Zuschläge von etwas mehr als 200 Euro pro Kind. Die mit Abstand meisten Notstandshilfebezieher erhalten laut Daten des Arbeitsmarktservice AMS einen Betrag zwischen 300 und 870 Euro pro Monat. Diese Personen können stets geringfügig (bis zu 438 Euro pro Monat) dazuverdienen, und zwar ohne dafür Steuern und Sozialabgaben zu zahlen.

Die Inaktivitätsfalle

Diese Zahlen dienen nur als Richtwert. Deutlich wird aber, dass die Differenz zwischen den Leistungen für Arbeitslose und dem Arbeitseinkommen von überschaubarer Größe ist. Bei Menschen, die Anspruch auf die erwähnten Kinderzuschläge haben und nur Teilzeit arbeiten können, verschwinden die Unterschiede nahezu komplett. "Inaktivitätsfalle" nennen das Experten.

Oft wird eingewandt, dass Beschäftigte pensionsversichert sind. Dieser Vorteil erscheint begrenzt: Wer im Niedriglohnsektor arbeitet, wird im Alter erst mit staatlicher Hilfe auf die Mindestpension kommen. Darauf hat sowieso ein Anrecht, wer ein paar Beitragsjahre zur Versicherung beisammen hat.

Wer sind nun die Niedriglohnbezieher? Besonders Frauen, Migranten und Menschen, die über keine höhere Ausbildung verfügen, sind betroffen. Über 35 Prozent der Arbeitnehmer mit lediglich Pflichtschulabschluss arbeiten für einen Niedriglohn. Unter Teilzeitbeschäftigten beträgt der Anteil der Niedriglöhner 27,5 Prozent. Bei Vollzeitbeschäftigten sind es weniger als zehn Prozent.

Nicht alle Berufssparten sind gleich stark betroffen. Eine Konzentration gibt es im Dienstleistungssektor, unter Verkäufern, Bürokräften, Friseuren, Hilfsarbeitern, Angestellten im Fitnesscenter. In der Industrie, im Handwerk und in technischen Berufen sind Minilöhne unüblich.

Die Untersuchung der Statistik Austria beruht auf einer Befragung von über 11.000 Unternehmen darüber, was sie ihren Mitarbeitern bezahlen. Diese umfangreiche Untersuchung wird nur alle vier Jahre durchgeführt, die jüngsten Zahlen stammen aus dem Jahr 2014. Allerdings kann man laut Statistikern davon ausgehen, dass es in den vergangenen Jahren kaum Veränderungen bei den Stundenlöhnen gab. Inflationsbereinigt sind die Bruttostundenverdienste zum Beispiel zwischen 2006 und 2014 stagniert.

Finanzielle Anreize

Arbeitsmarktexperten sagen, dass man finanzielle Anreize nicht überbewerten darf. Es gibt andere Gründe, warum Menschen Arbeit annehmen. Wer nicht arbeitet, verliert häufig den sozialen Anschluss, das Selbstwertgefühl kann leiden und andererseits macht das AMS Druck.

Höhe und Entwicklung der Marktlöhne würde in den politischen Debatten aber durchaus mehr Beachtung verdienen, dem widerspricht der Arbeitsmarktexperte Thomas Leoni vom Wirtschaftsforschungsinstitut Wifo nicht. Besonders im Fall von Menschen, die nicht Vollzeit arbeiten können. Was aus dieser Feststellung folgt, ist jedoch nur schwer zu beantworten.

Die Lohnfestlegung obliegt in Österreich Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Produktivität, Angebot und Nachfrage, Arbeitslosenzahlen und Verhandlungsmacht der Gewerkschaften bestimmen die Ergebnisse. Diktieren lassen sich Löhne nicht, zumal Unternehmen das Geld auch erwirtschaften müssen.

Gefangen in der Falle

Zudem ist die Logik, dass höhere Markteinkommen automatisch mehr finanziellen Anreiz schaffen, um zu arbeiten, nicht ganz richtig. Steigen die Löhne, würde das automatisch dazu führen, dass das Arbeitslosengeld und die Notstandshilfe mitwachsen, die anhand der Lohnsumme berechnet werden. Wer also eine Arbeit findet und sie verliert, wäre in derselben "Falle" gefangen. Für die Mindestsicherung gilt das nicht.

Viele Ökonomen befürworten deshalb, die Sozialversicherungsabgaben für Geringverdiener radikal zu senken. Gegenargument: Das schafft einen Systembruch, aus Versicherungsleistungen würde man "Almosen" machen.

Sicher ist, dass sich am österreichischen Arbeitsmarkt eine Zweiteilung gebildet hat. Stabil beschäftigte Menschen, die das ganze Jahr arbeiten, profitierten seit dem Jahr 2000 über Reallohnsteigerungen von gut sieben Prozent. Unter instabil Beschäftigten mit Brüchen im Lebenslauf, die mal ihren Job verlieren oder aufgeben, stagnieren die Löhne inflationsbereinigt seit 15 Jahren.

Ein Ziel müsste sein, stabile Beschäftigung zu fördern, sagt Leoni, ein simples Rezept dafür gebe es nicht. (András Szigetvari, 19.1.2018)