Die Weihnachtsfeiertage waren bereits angebrochen, doch Harry Frasier war immer noch im Einsatz um die letzten Flaschen Milch auszuliefern. Es war etwa sechs Uhr morgens am 24. Dezember, als er an Miss Comptons Küchentür anhielt. In der Nacht hatte es geschneit und es war eisig kalt, deshalb war er sehr erstaunt, als er bemerkte, dass die Tür offen stand. Harry rief Jessie Comptons Namen, erhielt aber keine Antwort. Daher ging er ins Haus, um zu sehen, ob alles in Ordnung war. Das Haus schien verlassen, von Miss Compton kein Spur. Bevor Harry Frasier das Haus verließ, machte er vorsichtig noch einige Schritte die Treppe zum Dachboden hinauf. Und dann sah er Jessie Compton. Sie hatte sich offensichtlich an einem der Dachbalken erhängt. Ein umgefallener Stuhl lag neben ihr. Sofort lief Harry wieder nach unten und rief die Polizei an. Der Polizist John T. Adams erhielt den Telefonanruf um 6:43 Uhr und kam sofort, um erste Spuren zu sichern. Der Schnee am Weg vorm Haus war zertrampelt, brauchbare Schuhabdrücke waren nicht zu finden. Miss Compton hatte alleine gelebt, ungewaschenes Geschirr für eine Person stand in der Küche, das Bett war unberührt, das ganze Haus machte einen ordentlichen Eindruck. Was war geschehen? Hatte sich Jessie Compton tatsächlich erhängt? Oder war sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen?

Der Tatort im Fall Jessie Compton.
Foto: Lorie Shaull [CC BY-SA 2.0]

Das ist nur einer der insgesamt 19 fiktiven Tatorte, die Frances Glessner Lee präzise und überaus detailliert in Form von penibel durchdachten Puppenhäusern erschaffen hat. Glessner Lee wird deshalb heute auch vielfach als "Mutter der forensischen Wissenschaften" bezeichnet.
Frances Glessner Lee, 1878 als Tochter eines wohlhabenden Industriellen in Chicago geboren, durfte kein College besuchen, während ihr Bruder in Harvard studierte. Statt einer Ausbildung heiratete sie einen Rechtsanwalt, einen Bekannte der Familie, doch die Ehe ging bald in die Brüche.

Frances zeigte schon von Jugend an ein großes Interesse an Forensik, doch sollte es bis ins Jahr 1930 dauern, dem Todesjahr ihres eigenen Bruders, dass sich Frances im fortgeschrittenen Alter von 52 Jahren ihrer wahren Leidenschaft widmen konnte. Sie trat das Erbe ihres Vaters an, war nun finanziell unabhängig und begann intensiv an Ideen zu arbeiten, wie man der Polizei ein Hilfsmittel an die Hand geben könnte um Indizien, die an Tatorten vorgefunden werden, richtig einzuordnen und zu bewerten. Dabei verfiel sie auf die Idee, ungeklärte Todesfälle in kleinen Puppenhäusern nachzustellen. Mit realitätsnahen Details, mit kurzen Fallbeschreibungen, aber ohne Hinweise auf den tatsächlichen Tathergang.

Frances Glessner Lee bei der Arbeit an ihren "Nutshell Studies of Unexplained Death".
Foto: Glessner House Museum

Die insgesamt 19 Dioramen sind außerordentlich präzise gearbeitet. Türen lassen sich öffnen, an den Wänden hängen winzige Gemälde und Spiegel, in manchen Zimmern liegen Miniaturausgaben von Tageszeitungen, Teegeschirr steht auf den Tischen, in den Lampen stecken funktionierende Glühbirnen. Detailtreue, die ihren Preis hatte. Jedes der akribisch konstruierten Puppenhäuser kostete bis zu 4.500 Dollar. 

Ein Tatort mit Liebe zum Detail: ein Gemälde über dem Bett, ein Kalender an der Wand.
Foto: Corinne May Botz
Zigaretten auf dem Tisch, eine Ausgabe von "Newsweek" vorm Sessel.
Foto: Corinne May Botz
Auf dem Herd steht der Kessel – vermutlich kocht hier Kartoffelsuppe.
Foto: Corrine May Botz

Frances Glessner Lee war davon überzeugt, dass durch intensives Studium eines Tatorts, durch Analyse jedes scheinbar noch so unwichtigen Details schließlich die Wahrheit eines Tathergangs ans Licht kommen würde. Polizisten, Ermittler in Mordfällen sollten ihre Dioramen daher genau studieren, um das Auge zu schulen und echte Gewaltverbrechen dadurch rascher aufklären zu können. Sie wollte wertvolle Hilfestellung für die Ermittlungen der Kriminalpolizei und die Arbeit der Rechtsmediziner leisten. Entsprechend vielfältig gestaltete sie ihre Puppenhäuser, sehr unterschiedlich auch die dargestellten Todesarten. "Virtual reality" in den 1940ern quasi.

Maggie Wilson starb in der Badewanne.
Foto: Corinne May Botz
Die Prostituierte Marie Jones beging laut Angaben des einzigen Zeugen Selbstmord mit einem Messer.
Foto: Lorie Shaull [CC BY-SA 2.0]
Robert Judson, seine Frau Kate, und das Baby Linda Mae wurden tot im Schlafzimmer aufgefunden.
Foto: Lorie Shaull [CC BY-SA 2.0]
Der Farmer Eben Wallace erhängte sich im Schuppen. So wurde er von seiner Frau Imelda gefunden.
Foto: Corinne May Botz
Barbara Barnes starb in ihrer Küche. Die Tür war versperrt.
Foto: Corinne May Botz
Charles Logan beging Selbstmord mit einem Gewehr – behauptete jedenfalls seine Frau Carolyn.
Foto: Lorie Shaull [CC BY-SA 2.0]
Dorothy Dennison, High School Studentin.
Foto: Lorie Shaull [CC BY-SA 2.0]
Die "Nutshells", ausgestellt bei Chief Medical Examiner in Baltimore.
Foto: Lorie Shaull [CC BY-SA 2.0]

In den 1940ern wurde Frances Glessner Lees Traum wahr. Sie hielt Vorträge über die richtige Vorgehensweise bei Morduntersuchungen und veranstaltete Seminare, in denen ihre Puppenhäuser im Zentrum des Geschehens standen. Die Studenten erhielten 90 Minuten Zeit, um sich mit den Tatorten vertraut zu machen, anschließend wurde über den vermeintlichen Tathergang diskutiert. Endgültige Lösungen der unerklärten Todesfälle wurden nicht publiziert – schließlich sollte sich auch die nächste Generation von Studierenden an den Tatorten im Puppenhaus die Zähne ausbeißen.

Als Frances Glessner Lee 1962 starb, hinterließ sie die einzigartigen mörderischen Puppenstuben als Vermächtnis. Bis zum heutigen Tag werden die Dioramen von angehenden Kriminologen und Forensikern als Anschauungsmaterial beim Studium in Harvard verwendet.

Vox

Das obige, kurze Video gibt einen interessanten Einblick in den tatsächlichen Aufbau der "Nutshells" und die Detailversessenheit, mit der Glessner Lee ihre Dioramen gestaltete. (Kurt Tutschek, 30.1.2018)

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