Als der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen bei einer Diskussionsveranstaltung im März 2017 auf das Thema "Islamophobie" angesprochen wurde, meinte er: "Wenn das so weitergeht [...] bei dieser tatsächlich um sich greifenden Islamophobie, wird noch der Tag kommen, wo wir alle Frauen bitten müssen, ein Kopftuch zu tragen – alle, als Solidarität gegenüber jenen, die es aus religiösen Gründen tun."

Die verborgene Kernfrage

Und dann: "Wenn ich mich richtig erinnere, haben die Dänen während der deutschen Besatzung doch etwas ähnliches gemacht. Und nicht-jüdische Dänen haben angefangen, den Davidstern zu tragen – als symbolische Geste des Widerstands gegen die Deportation von Juden."

Van der Bellens Aussagen waren Gegenstand heftiger Kontroversen – und es fehlte auch nicht der Hinweis, dass der Davidstern – vermutlich weil die Nazis einer Konfrontation mit dem dänischen König aus dem Weg gehen wollten – in Dänemark niemals eingeführt wurde.

Ausgeklammert blieb dabei die eigentliche – und verborgene – Kernfrage der Affäre: Ob es stimmt, dass "Islamophobie", wie vielfach behauptet, der neue Antisemitismus sei. Eine These, die Van der Bellens Dänemark-Vergleich offenbar zugrunde liegt, und die uns im folgenden beschäftigen soll. Zunächst sollten wir uns aber fragen, was es mit Islamophobie – genauer mit dem Begriff "Islamophobie" – auf sich hat.

Van der Bellens Aussagen sorgte für heftige Diskussionen.
Foto: AP Photo/Ronald Zak

Was es mit der "Islamophobie" auf sich hat

Dass die Wahrnehmung von Menschen aus Ländern oder Regionen wie der Türkei, dem arabischen Raum oder Nordafrika als Repräsentanten des Islam, mehr noch ihre "volle Identifizierung"¹ mit dem Islam, ein relativ neues Phänomen darstellt – darauf wurde in diesem Blog wiederholt hingewiesen. Im Blogbeitrag "Warum wir Linke über den Islam nicht reden können" habe ich etwa zu zeigen versucht, wie aus Türken "Muslime" wurden: Noch in den 90er-Jahren behauptete der Diskurs der Rassisten in Österreich und in Deutschland, die Türken würden "uns" Probleme bereiten, weil sie eben Türken seien. Seit den Anschlägen von 9/11 und dem Erstarken des sogenannten politischen Islam, behaupten Vertreter des neuen Rassismus, die Türken (die Araber, die Nordafrikaner ...) würden "uns" Probleme bereiten – weil sie Muslime seien. Der Islam gilt diesem Diskurs also nicht mehr bloß als Glaubensbekenntnis, zu dem sich Menschen bekennen mögen oder auch nicht, sondern als eine Art "Natureigenschaft" von Arabern, Türken oder Iranern.

Auch das Paradoxon, dass die – wohlwollenden und weltoffenen – linken und liberalen Gegner des neuen Rassismus, statt die falsche, weil fixe Verknüpfung zwischen einem Glaubensbekenntnis und bestimmten Gesellschaften oder Individuen zu kritisieren, bei den Identitätsvorgaben der Rassisten bleiben, wurde an dieser Stelle wiederholt analysiert: Wer nicht müde wird, "Islamophobie" oder Islamfeindschaft als rassistisch zu bezeichnen – oder den neuen Rassismus als "antimuslimisch" zu etikettieren –, erklärt den Islam, ohne es zu bemerken, zu einer "rassischen", quasi-genetischen Eigenschaft von Arabern, Türken oder Iranern. Und reproduziert, statt sie zu bekämpfen, die rassistische, rechte Ideologie der "vollen Identität" zwischen bestimmten Individuen und der imaginären Kategorie Islam (imaginär, weil es sich hier um Glaubensvorstellungen handelt).

Kampfbegriffe ersticken Debatten

Hinzu kommt, dass Kampfbegriffe wie "Islamophobie", indem sie die Kritik an einer oder die Ablehnung einer Glaubenslehre als "rassistisch", sprich als "unmöglich" etikettieren, jede substantielle Debatte über den Islam im Keim ersticken. Mit fatalen Folgen. So werden Stimmen, die in islamisch geprägten Gesellschaften, etwa in der Islamischen Republik Iran – wo der europäische Diskurs über den Islam aufmerksam registriert wird – die Emanzipation der Gesellschaft von der Religion fordern, regelmäßig mit dem "Islamophobie-Argument" konfrontiert. Und – oft buchstäblich – mundtot gemacht.

Dass Muslime heute in den liberalen Demokratien des Westens weit mehr Religionsfreiheit genießen als in vielen islamisch geprägten Ländern – man denke etwa an die Unterdrückung von Schiiten im wahhabitischen Saudi-Arabien, der Aleviten in der Türkei oder muslimischer Derwische im Iran –, gründet nicht auf einen interreligiösen Friedensvertrag zwischen dem Islam und dem Christentum – sondern auf der Emanzipation der Gesellschaft von Religion. Eine Emanzipation, die ohne die radikale Religionskritik der Aufklärer des 18. Jahrhunderts undenkbar wäre. Dass falsche Begriffe wie "Islamophobie" Religionskritik – und somit jene Emanzipation der Gesellschaft von Religion – hintertreiben, auf die eben auch die Religionsfreiheit der Muslime in westlichen Demokratien basiert, ist ein weiteres Paradoxon der aktuellen Islam-Debatte.

Vandalismus auf einem jüdischen Friedhof in den Rochester, New York.
Foto: APA/AFP/GRETCHEN STUMME

Ist Antisemitismus Rassismus?

In der Gleichung "Islamophobie = der neue Antisemitismus" ist Rassismus die – hier unsichtbare – dritte Variable, welche die Begriffe "Islamophobie" und Antisemitismus miteinander verbindet. Die Behauptung, "Islamophobie" sei der neue Antisemitismus beruht demnach auf der These, dass es sich sowohl beim Antisemitismus als auch bei "Islamophobie" um Rassismus handeln würde – so dass wir berechtigt wären, diese beiden Begriffe derselben Kategorie zuzuordnen.

Die falsche – und folgenschwere – Verknüpfung von "Islamophobie" und Rassismus hat uns gerade beschäftigt. Wie steht es aber um den Zusammenhang von Antisemitismus und Rassismus? Anders gefragt: Ist Antisemitismus Rassismus?

In seinem zum Klassiker avancierten Essay "Nationalsozialismus und Antisemitismus"² weist der kanadische Historiker Moishe Postone darauf hin, dass der moderne Antisemitismus imstande ist, die Juden als geheime Macht sowohl hinter dem Kapitalismus als auch hinter dem Kommunismus auszumachen. Dieser verwirrend-widersprüchliche Befund sollte uns hellhörig – und darauf aufmerksam machen, dass an der weitverbreiteten Identifizierung von Antisemitismus mit Rassismus etwas nicht stimmen kann. Solche widersprüchlichen Zuschreibungen würden wir in den Fantasien der Rassisten – etwa im rassistischen Ressentiment gegen Afroamerikaner – vergeblich suchen.

Antisemitismus als "umfassende Weltanschauung"

Rassistische Fantasien kreisen stets um das Verhältnis der Fremden zum Genießen und zur Leistung – um die Vorstellung, jene Fremden würden "uns" den Genuss stehlen. Als Sozialschmarotzer, die auf Kosten von uns einheimischen Steuerzahlern genießen, ohne zu leisten, als Kriminelle, die uns direkt bestehlen, als Konkurrenten um den Arbeitsplatz – oder: indem sie zu viel leisten, sich listig und raffgierig zu Kapitalisten hinaufarbeiten, um uns auszubeuten, uns also wiederum um unseren Genuss zu bringen. In dieser letzteren Vorstellung – die das Klischee des raffgierigen, jüdischen Kapitalisten oder Bankers evoziert – scheinen Rassismus und Antisemitismus sich aber tatsächlich zu überschneiden.

Bei den Subjekten, an deren Adresse die Fantasien der Rassisten gerichtet sind – Afroamerikaner in den USA, Türken in Deutschland oder Österreich, Chinesen in Ostasien et cetera – handelt es sich allerdings stets um konkrete, real existierende Gruppen. Und es ist diese Konkretheit, die – wie wir noch sehen werden – den grundlegenden Unterschied zwischen dem Antisemitismus und dem Rassismus ausmacht. So dass das erwähnte antisemitische Klischee vom jüdischen Kapitalisten – das ebenfalls auf eine konkrete Gruppe Bezug zu nehmen scheint – im Kontext des modernen Antisemitismus eine andere, tiefere Dimension gewinnt, die bei rassistischen Fantasien fehlt.

Denn: Wie Postones Analyse zeigt, ist der moderne Antisemitismus nicht bloß ein "Vorurteil gegen Juden", sondern eine "umfassende Weltanschauung"³, in der sich verschiedene Aspekte des Unbehagens am modernen Kapitalismus – namentlich des Unbehagens an seiner Unfassbarkeit und Abstraktheit – bündeln und "erklärt" werden.

Abstrakt und konkret

Was Abstraktheit hier meint, lässt sich am besten anhand der Beziehung zwischen Ware und Geld demonstrieren. Nehmen wir an, ein Gebrauchtwarenhändler wäre im Besitz eines gebrauchten Fahrrads und einer gebrauchten Gitarre, beide im Wert von je 300 Euro. Als konkrete Gebrauchsgegenstände sind Gitarre und Fahrrad recht verschiedene Dinge. Aus der Sicht des Gebrauchtwarenhändlers aber, der aus seinen Waren Geld machen will, ist – solange er den Kaufpreis von 300 Euro erhält – die konkrete Beschaffenheit der verkauften Ware völlig gleichgültig. Ausschlaggebend ist für ihn bloß der "abstrakte" Aspekt des Preises, also die Geldsumme, die er für die Gitarre oder das Fahrrad erhält. Abstrakt, weil der Preis einer Ware von der konkreten Gestalt und dem konkreten Gebrauchswert derselben abstrahiert – also absieht.

Das alles mag zunächst belanglos erscheinen, jedenfalls kein Unbehagen auslösen. Anders verhält es sich, wenn wir dieses Abstraktionsprinzip bei der Auswahl von neuen Mitarbeitern eines Unternehmens am Werk sehen. Wenn – bei gleicher fachlicher Qualifikation – andere "konkrete" Eigenschaften der Bewerber – Nationalität, Hautfarbe, Religion, Muttersprache et cetera – keine Rolle spielen. So dass von diesen konkreten Aspekten abstrahiert werden kann. Diese Tendenz des Kapitals, sich nicht an Orte, Regionen, Nationen, Nationalitäten, Religionen, Sprachen et cetera zu binden, nirgendwo "verwurzelt" – also eben abstrakt – zu sein, kann etwa bei Arbeitern und Angestellten, die mit ausländischen Mitbewerbern um den Arbeitsplatz konkurrieren, zumal wenn die ausländische Konkurrenz es billiger macht, großes Unbehagen auslösen. Ein Unbehagen, das sich noch vergrößert, wenn ganze Industriezweige in Niedriglohnländer abwandern, mit den bekannten Folgen: Zunahme der Arbeitslosigkeit und Druck auf die heimischen Löhne.

Es ist das Unbehagen an eben dieser abstrakten Seite der als "unfassbar, zerstörerisch [und] unendlich mächtig" wahrgenommenen "internationalen Herrschaft des Kapitals"⁴, das im modernen Antisemitismus zum Ausdruck kommt. Anders als der traditionelle Antisemit, der die Juden mit dem Geld identifizierte, sind Juden für den modernen Antisemiten Repräsentanten des Kapitalismus in einem weit umfassenderen Sinn, der auch noch den Sozialismus und den Kommunismus – als Reaktionen auf den Kapitalismus – miteinschließt. Und: Anders als der Rassist imaginiert der moderne Antisemit die Juden nicht als konkrete, real existierende Gruppe, sondern als geheime, unsichtbare Macht hinter den unbehaglichen Aspekten des Kapitalismus.

Anleitung zur Erlösung

Indem der moderne Antisemitismus jenes Abstrakte in Gestalt der Juden konkret werden lässt, bietet er dem Antisemiten aber nicht bloß eine Erklärung, sondern auch die Anleitung zur Erlösung: Die Überwindung des Kapitalismus durch die Eliminierung der konkreten Gestalt jenes Abstrakten – also der Juden.

Warum gerade die Juden dem modernen Antisemiten als Repräsentanten der abstrakten Seite des Kapitalismus erscheinen, diese Frage können wir – falls überhaupt beantwortbar – hier nur im Ansatz behandeln. Postone weist auf den zeitlichen Zusammenhang zwischen der Emanzipation der europäischen Juden und der raschen Expansion des Industriekapitalismus Ende des 19. Jahrhunderts hin. Diese führte dazu, dass Juden gerade in jenen Bereichen und Berufen stark vertreten waren, die im öffentlichen Bewusstsein die atemberaubende Modernisierung der Gesellschaft repräsentierten, so dass Juden mit dem modernen Kapitalismus und der Moderne als solche identifiziert wurden.

Was unterscheidet den Hass auf Juden vom Hass auf Muslime?
Foto: Jedrzej Wojnar/AP/dapd

Hinzu kommt ein wichtigerer Aspekt: Dem Antisemiten bereitet es großes Unbehagen, dass Menschen in einer modernen bürgerlichen Gesellschaft allein aufgrund des abstrakten, juristischen Kriteriums der Staatsbürgerschaft als – sagen wir – Österreicher gelten können, ohne "konkrete" Kriterien, wie etwa die Abstammung, erfüllen zu müssen, die in seinen – des Antisemiten – Augen einen "echten Österreicher" ausmachen. Genau dieses Unbehagen versuchte die ÖVP 1970 zu mobilisieren, als sie Wahlplakate mit dem Slogan "Josef Klaus, ein echter Österreicher" affichieren ließ. Jeder wusste was gemeint war: Klaus’ Konkurrent, Bruno Kreisky, konnte als Jude natürlich kein echter Österreicher sein.

Auch hier erscheinen Juden als die konkrete Gestalt des Abstrakten. Zumal sie in den Augen der Antisemiten, im Unterschied zu Zuwanderern, "wurzellos" sind, also keinem konkreten Ursprungsland zuzuordnen. Während also "der wurzellose Jude" für den Antisemiten kein "echter Österreicher" sein kann, schreiben die Rassisten von FPÖ, AfD und Co "dem Muslim", der ihnen in seiner (Glaubens-)Gemeinschaft und seiner islamischen Tradition fest verwurzelt erscheint, ganz im Gegenteil "volle Identität" zu, beneiden ihn (unbewusst) dafür – und beziehen aus diesem Neid einen nicht unbeträchtlichen Teil ihres Hasses auf ihn.

Frage an Radio Eriwan

Wir können nun, frei nach Slavoj Zizek⁵, die eingangs gestellte Frage nach dem Muster eines alten sowjetischen Witzes beantworten. "Frage an Radio Erwian: Stimmt es, dass Rabinowitsch in der Staatslotterie ein neues Auto gewonnen hat?" Antwort: Im Prinzip ja. Nur, dass es kein Auto war, sondern ein Fahrrad. Dass es nicht neu, sondern alt war. Und dass er es nicht gewonnen hat – sondern dass es ihm gestohlen wurde.

Auf unsere Frage bezogen: Stimmt es, dass "Islamophobie" der neue Antisemitismus ist? Und dass es sich sowohl im Falle der "Islamophobie" als auch im Falle des Antisemitismus um Rassismus handelt?

Im Prinzip ja. Nur dass weder die Angst vor einer Glaubenspraxis rassistisch sein kann, wie der Begriff "Islamophobie" suggeriert, noch die Kritik an einer Glaubenslehre. Rassistisch ist vielmehr der Begriff "Islamophobie", der den Islam implizit zu einer "rassischen", quasi-genetischen Eigenschaft von Individuen erklärt. Und dass der Antisemitismus weder eine Unterabteilung des Rassismus noch mit dem Ressentiment der neuen Rassisten vergleichbar ist. Denn: Der Antisemit wirft den Juden vor, keine "echten Österreicher" zu sein, wohingegen die neuen Rassisten den Muslimen, im Gegenteil, "volle Identität" mit ihrer (Glaubens-)Gemeinschaft zuschreiben, und sie hassen, weil sie ihnen diese ihre – vermeintliche – volle Identität insgeheim neiden. (Sama Maani, 25.1.2018)

Fußnoten

¹ Vgl.: Isolde Charim, Volle Identität gegen nicht-volle. In R. Just, G.R. Schor (Hrsg.), Vorboten der Barbarei, Hamburg 2011, S. 11ff.
² Moishe Postone, Nationalsozialismus und Antisemitismus.
³ Ebd.
⁴ Ebd.
⁵ Slavoj Zizek, Freud lives!, London Review of Books, Vol.28 No.10, 25. Mai 2006
Zizek analysiert hier auf der Grundlage des erwähnten Radio-Eriwan-Witzes Freuds These, wonach Träume die phantasmatische Verwirklichung unbewusster Wünsche darstellten. Zur Rolle unbewusster Wünsche bei der Produktion und Reproduktion jenes Bewusstseins, das sich in falschen Begriffen wie Islamophobie ausdrückt, siehe Sama Maani, Warum wir glauben - und es nicht wissen, in: Patsy  l’Amour laLove (Hg.), Selbsthass & Emanzipation, Berlin 2016, S. 219.