Deutlich wird bei Spinney, dass die Medizin der sogenannten Spanischen Grippe hilflos gegenüberstand.

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Die weltweit grassierende Pandemie kostete zwischen Frühjahr 1918 und Anfang 1920 geschätzten 50 bis 100 Millionen Menschen das Leben.

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In den ersten Jännertagen 1920 lief der Tod durch Berlin. Er trug einen langen grauen Mantel, hatte ein Spazierstöckchen unter der Achsel, aus den Zahnreihen seines Totenschädels ragte ein Zigarettenhalter mit glimmendem Tschick. Es war Señor Influenza. Im Mantel aber steckte der Künstler George Grosz in seiner Dada-Phase. Mit nichts hätte er die Bevölkerung mehr erschrecken können denn als Inkarnation der Spanischen Grippe.

Dieses Beispiel fehlt in Laura Spinneys Geschichte der weltweit grassierenden Pandemie, die zwischen Frühjahr 1918 und Anfang 1920 geschätzte 50 bis 100 Millionen Leben kostete. Die finale kulturhistorische Sektion ist zugleich die schwächste von 1918. Die Welt im Fieber. Denn hier bewegt sich die 1971 geborene englische, heute in Paris lebende Wissenschaftsjournalistin auf Terrain, das ihr sichtlich wenig behagt.

Bis dahin ist aber ihre Globalgeschichte mehr als gelungen. Denn sie präsentiert ein Epos dieser Pandemie, die vor keinem Land haltmachte. So kommt man auf der mit vielen Vignetten gespickten Darstellung von Soldaten in französischen Schützengräben bis nach Amerikanisch-Samoa, nach Südafrika, Alaska und Brasilien, nach China, Indien und Russland; den rudimentären Erfassungslisten dieser drei Länder verdankt sich auch die enorme Bandbreite der Schätzung der Toten, unter denen in Wien Egon Schiele, in München Max Weber, in Paris der Dichter Guillaume Apollinaire waren.

Hilflose Medizin

Dies ist oft erhellend, etwa wenn Spinney erläutert, wieso der Name Spanische Grippe falsch ist. Die Verbreitungswege der Grippe verdankten sich globalisierten Wirtschaftswegen – in der Regel infizierten ausländische Seeleute, die an Land gingen, den Hafenort, von dort verbreitete sich die Grippe entlang von Bahnrouten – und dem Krieg – weiter. Entscheidend dabei: Truppenverlegungen von Ost- nach Westeuropa sowie über den Atlantik hinweg.

Deutlich wird bei Spinney, dass die Medizin dem Ganzen hilflos gegenüberstand. Die Diagnose einer Verbreitung der respiratorischen Erkrankung durch Bakterien war falsch, daher auch die Therapien; erst später fand man heraus, dass es von Wildvögeln überspringende Viren waren. Weltweit herrschte Angst, vor allem bei Bewohnern von Städten. Dort war die Todesrate höher als auf dem Land. Was Reflexionen über die mangelhafte Verankerung der Spanischen Grippe im kollektiven Bewusstsein angeht sowie zukünftige tödliche Pandemien und deren Prävention, geht Spinney nicht über das hinaus, was Wilfried Witte schon 2009 in "Tollkirschen und Quarantäne" umriss, seiner schmalen Monografie, die Spinney nicht erwähnt. Ist doch die Literatur, auf die sie sich stützt, stark englischlastig. Was für eine Globalgeschichte ein wenig merkwürdig anmutet. (Alexander Kluy, 27.1.2018)