Bei der Arbeit: Trotz aller elektronischer Hilfsmittel und 3D-Simulationswerkzeuge ist für Gorden Wagener das traditionelle handwerkliche Können mit Papier und Stift ein Muss.

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G-Klasse und das künftige Elektromobilgesicht der Submarke EQ markieren die beiden Designextreme, zwischen denen Mercedes sich bewegt. Hinzu kommen noch die Gesichter von AMG und Maybach.

Foto: Andreas Stockinger

Der EQ-Grill.

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STANDARD: Der Porsche 911 ist ein gelungenes Beispiel für die Kunst, einen Klassiker stilsicher über Generationen fortzuschreiben. Jetzt auch der G. Welche Hürden, Schwierigkeiten sind da zu bewältigen?

Wagener: Das Schwierigste ist erst einmal, dass man sich als Künstler zurücknimmt. Nicht versucht, den G sein Eigen zu machen, sondern die Ikone über einen selbst stellt und schaut: Was macht das Auto aus? Dass man diesen Charakter versteht, erhält und dann das subtil in die Zukunft bringt. Wir haben im Prinzip drei Sachen gemacht: Erstens, das Auto sauber aufräumen. Die ganzen komischen Ecken, die der G hat, schließen, glätten, schöner machen und so, damit das Auto einen cleaneren, moderneren Eindruck kriegt. Zum Beispiel ist jetzt die Frontscheibe eingelassen, komplett bündig. Zweitens, Proportion, gerade wenn man cleane Sachen macht, ist das Wichtigste im Design. Das muss erst mal stimmen. Man muss das Haus richtig bauen. Das Auto ist zwölf Zentimeter breiter geworden, ist vom Auftritt deutlich gewachsen. Vorne ist er auch länger geworden wegen Crash. Es ist immer schön, wenn das Rad möglichst weit vorne steht. Auch der Überhang vorne ist länger geworden, was nicht so gut ist – das haben wir schön über Pfeilung gelöst. Wir haben also die Proportionen noch einmal perfektioniert. Das Dritte ist natürlich das Interieur, das wir in eine zeitgemäße Form gebracht haben. Aber auch mit Respekt der Ikone gegenüber. Wenn man das Dashboard anschaut, mit dem Handle, dem Haltegriff – dann aber mit dem Digitalscreen drin. Toll, clean, luxuriös.

STANDARD: Der G war ein nüchterner, zweckorientierter Geländehaudegen, fürs Militär konzipiert und erst spät für den zivilen Kunden entdeckt. Beim Neuen ist es genau umgekehrt – er ist von Anbeginn ein ziviles Luxus-Geländauto. Wird es auch einen Militärableger geben? Europas Armeen nehmen ja wieder mehr Geld in die Hand.

Wagener: Ich glaube, ja. Wir bauen dafür aber erst mal den Alten weiter. Irgendwann wird man den Neuen wohl dort einsetzen – auch das Militär hat ein Recht auf Stil.

STANDARD: Sinnliche Klarheit ist Ihre aktuelle Philosophie. Hat die zuletzt geübte Praxis, besonders den Seitenkorpus wild und verwegen zu gestalten, seinen Zweck erfüllt?

Wagener: Wir haben eine Generation Compact-Cars bewusst in der Ausprägung dramatisiert, A-Klasse und so. Das hat sehr geholfen, diesen Wechsel von Mercedes zu einer neuen Generation klar zu machen. Das hat super funktioniert und ist ja mittlerweile ein Vorbild geworden für die ganze Industrie. Viele wollen das jetzt, in der nächsten Generation, nachmachen, diesen Erfolg der A-Klasse. Wir sind eine Generation weiter. Wir sagen: Ok, das war gut, war richtig so, aber jetzt gehen wir einen anderen Weg. Wenn wir’s mögen, nehmen wir eine Linie raus und noch eine – was viel schwieriger ist als eine Linie draufzuschmeißen.

STANDARD: Warum?

Wagener: Weil man dann eben mehr die Essenz sieht, die Proportion. Man modelliert mit Flächen, mit Licht, und nicht mit Linien. Was viel anspruchsvoller ist. Und wie gesagt, wenn ich eine schlechte Proportion habe, dann muss ich es kurz gesagt gliedern mit Linien. Es gibt ja viele, die haben ganz viele Linien drauf. Das ist momentan der Mainstream. Für uns ist die Zeit der Sicken und Kanten vorbei. Man sieht’s in den neuen Autos, CLS, E Coupé, das sind die ersten, die wir als 3.0 unserer "sensual purity" bezeichnen. Wir entwicklen das immer weiter, mehr zur Cleanheit, aber emotionalen Cleanheit. Es ist immer cool and hot, es ist immer beides. Sexy, aber clean. Ein schöner Mensch hat auch keine Ecken.

STANDARD: Vielleicht Ecken und Kanten?

Wagener: (lacht) Ja, es gibt Menschen mit Ecken und Kanten, aber da sind wir mehr im Intellektuellen. Was Schönheit angeht, ist die Form doch rund, weich und hat trotzdem Spannung. Es ist wichtig, wie es gemacht wird. Man kann es schlecht und gut machen, wie überall im Leben.

STANDARD: Der Ansatz erinnert an die Bauhaus-Tradition, ein wenig auch an das griechische Schönheitsideal.

Wagener: Deshalb sagen wir, wir nehmen diesen urdeutschen Bauhausgedanken auf, diesen Gedanken von Reduktion und Simpliziät. Der hat beim Bauhaus natürlich auch einen ästhetischen Anspruch, aber primär ist es eine intellektuelle Denke; Deutschland, das Land der Dichter und Denker. "Form follows function"? Ein Motto, warum ich Autodesigner geworden bin, denn die Form kann auch der Schönheit oder Ästhetik folgen. Dadurch, dass wir das machen und zum intellektuellen Thema die Emotion dazuholen, kriegen wir den Bauhausgedanken auf einen ganz neuen Level. Das ist der Grundpfeiler unserer Philosophie. Schönheit braucht keinen Denkprozess. Schönheit ist intuitiv. Ich sehe es und finde es sexy. So sind wir programmiert.

STANDARD: C-, E-, S-Klasse sehen einander zum Verwechseln ähnlich.

Wagener: Das ist ganz bewusst gemacht.

STANDARD: BMW differenziert deutlich mehr in den Baureihen.

Wagener: Ja? Ich finde, die sind nicht mehr differenziert als wir. Wir haben C, E und S, die drei Limousinen, die der Kern der Marke sind, ganz bewusst homogen zu einer Familie gemacht und sind damit extrem erfolgreich. Die S-Klasse dominiert das Segment, die C-Klasse ist in ihrem das erfolgreichste Auto, erfolgreicher noch als der Vorgänger, die E-Klasse ebenso. First of all ist es wichtig: Das ist der Mercedes in dieser Klasse.

STANDARD: Differenzierungsbedaf sehen Sie also keinen?

Wagener: Nein. Denn wie gesagt, das funktioniert super, die Kunden lieben es. Das sind typische Journalistenfragen: Die Autos sehen alle gleich aus...

STANDARD: ...wie bei Audi...

Wagener: ...nein, denn Audi hat das mit allen Autos gemacht und wir machen es nur mit drei Limousinen. Darüber hinaus hat jede unserer vier Subbrands einen eigenen Auftritt. AMG mit dem Panamercanagrill. Maybach: da sind wir gerade am Anfang, bei den Studien hat man ja gesehen, wie wir den Grill gestalten werden. Mercedes-Benz hat zwei Grills, einmal mit dem Stern im Grill, einmal drüber auf der Haube. Und EQ hat das neue Gesicht mit dieser Verbindung Scheinwerfer-Grill, wie ein black panel, wie ein Bildschirm. Alle fünf Gesichter funktionieren. Das ist per se schon eine Differenzierung..

STANDARD: Wie weit wird die alternative Mobilität das Erscheinungsbild der Marke beeinflussen, Stichwort: EQ, Ihre Submarke für die Elektromobilität?

Wagener: Irgendwann komplett.

STANDARD: Zum Auftakt gibt es aber eine deutliche optische Spreizung zwischen verbrennungsmotorischen Autos und EQ.

Wagener: Weil wir eben ganz bewusst Mercedes Elektro als EQ machen, progressiver Luxus. Cool und hot. Die Autos sind mehr pur als pur: Sie sind seamless, so wie ein Smartphone. Eine super Gelegenheit, diesen Wandel anzufangen, der die Industrie prägen wird. EQ ist unsere Progressivmarke.

STANDARD: Was konkret kann man sich unter "digitalem Luxus" vorstellen?

Wagener: Wir nenne das ja Case. Connected, autonomous, shared, electric. Das sind sozusagen die Hauptschlagworte, die momentan durch diese Industrie geprügelt werden, mit "Digitalisierung" und "wir ändern alles und fahren alle nur noch autonom" und so weiter. Das wird kommen, und es ist auch toll und spannend, dabei zu sein, das Auto in den kommenden zehn Jahren mehr zu ändern als in den 100 Jahren davor. Aber dieses "Case" wird ja jeder machen. Den Unterschied wird dann eben machen, wie es über Design inszeniert wird. Als Luxuserfahrung. Darauf wird’s ankommen. Wie wir es schaffen, Technologie in ein emotionales Erlebnis zu verwandeln.

STANDARD: Ist nicht mit ein Hauptpunkt, die Komplexität der Information so klar und intuitiv wie möglich aufzubereiten?

Wagener: Auch hier gilt: weniger ist mehr. Es ist viel schwieriger, nur das Wesentliche darzustellen. Was ist der Ammount of information, den ich gerade zu dieser Situation brauche und wie kriege ich das visuell rüber. Wir haben unser neues Operating System, das intuitive und lernfähige Multimediasystem MBUX (Mercedes-Benz User Experience; kommt demnächst in der neuen A-Klasse, Anm.) gerade auf der CES in Vegas gezeigt, das glaube ich derzeit klarste und intuitivste System auf dem Markt. Das erste, das wir komplett durchdesignt habe, how it looks und how it works. 80 Prozent aller Usecases auf den ersten zwei Layern etc. Also. Das ist ein ganz wichtiges Thema. Wir haben inzwischen über 100 Interaction Designer, auch in Silicon Valley und China, und damit eine gute Organisation, die sich damit befasst..

STANDARD: Es gibt etliche Negativbeispiele, zuletzt etwa die Gestensteuerung. Es ist nicht verständlich, warum der Kunde den Feldversuch mitgestalten soll.

Wagener: Das ist die Silicon Valley-Denke: Ich kipp mal was auf den Markt und lasse den Kunden erproben und krieg dann deren Feedback. Bei Sachen wie dem autonomen Fahren sollte man das glaube ich nicht machen, sondern nur ausgereifte Sachen rausbringen. Ich finde auch: Das Thema Gestensteuerung war eine Sackgasse. Weil es in der Form keinen Sinn macht. Wir waren die Ersten, die das gezeigt haben, haben es aber für die Serie in der Form verworfen, weil es keinen Sinn macht, vor dem Schirm rumzuwedeln, weil da kann ich ja gleich draufdrücken. Es mag aber intuitive Situation geben, wo die Gestensteuerung besser ist.

STANDARD: Wie wichtig sind die besonderen emotionalen Duftnoten, sprich: Sportwagen, Coupés, Cabriolets, für die Marke?

Wagener: Total. Wir haben ja mit die größte Dichte an Traumwagen. Das ist auch für den Designer schön, weil einen Sportwagen oder ein Coupé zu machen, ein emotionaleres Auto, da ist das Herz mehr dabei. Und ein Auto wie der AMG GT, da haben wir schon einen Sportwagenikone geschaffen. Es gibt nicht viele Marken, die authentisch solche Autos machen können. SL oder so. Wobei, ich bin jetzt 20 Jahre in der Company und hab’ noch nie einen SL gemacht – außer den nächsten, der kommen wird. Oder S-Klasse Coupé und Cabrio; viele sagen: die Schönsten der Reihe. Der Ahnenreihe was hinzuzufügen, das ist per se schon einmal eine Ehre. Wenn’s dann auch noch schön wird, das sind schon so Sachen, die einen als Designer bewegen. Die nächste Box zu füllen, ein bisschen Historie zu schreiben, G-Modell zu erneuern, was weiß ich. Das sind besondere Momente. Wir sind keine Mainstream-Company, aber wir sind die führende automobile Luxusfirma, und deshalb ist das für uns ganz wichtig.

STANDARD: Und was ist mit der Traditionspflege, dem großen automobilen Erbe der Marke?

Wagener: Man muss immer nach vorne schauen. Zurück schauen ist feige. Damals war’s schön, man war jung, sorglos (lacht), nach vorne schauen in die Zukunft ist immer mutiger. Die Zukunft ist das, was wir draus machen. Wir Designer leben ja in der Zukunft, wir leben fünf bis zehn Jahre in der Zukunft, vor dem Markt, es ist eine andere Zeitzone bei uns. Die Zukunft wird das, was wir draus machen, was wir gestalten.

STANDARD: Keine Anregungen aus der Geschichte?

Wagener: Man kann inspiriert sein von der Vergangenheit, 30er-Jahre etc., und es gibt bei den Sportwagen viel von der Formensprache, was wir aufgegriffen haben – aber da sind wir wieder beim Sex appeal: Warum findet jeder einen Oldtimer gut? Weil er eben diese Formen hat, die wir sexy finden. Auch wegen der Mechanik, weil Mechanik ist auch etwas Faszinierenden, zeitlos und wertbeständig. Deshalb ist ja so ein Chrono viel besser, weil den hab’ ich schon 20 Jahre und den vererbe ich meinen Kindern, als eine Smart-Watch, die ich morgen wegschmeiße. Das behält den Wert – und Software ist mit dem nächsten Update nutzlos. Es gibt ja diesen Hyper-analog-Trend, mit Leica, Vinyl etc., der spielt auch bei uns eine Rolle. Wir haben diese digitalen Bildschirme, dafür machen wir dann Lüftungsdüsen aus Aluminium, mit feinen Zierrädern, die ich drehen kann, diese mechanische Schönheit, dieses Wertbeständige.

STANDARD: Traditionspflege, da schließt sich der Kreis zur Einstiegsfrage, 911 und so.

Wagener: Das Wichtigste für den Designer ist, erst einmal zu verstehen, was er designt. Was ist das für eine Marke? Wofür steht die? Das haben wir sehr umfassend gemacht. Es gab eine Zeit, da wusste keiner so recht, wofür Mercedes steht. Einfache Antwort: Es ist eine Luxusmarke. War eine tradierte Luxusmarke, ist jetzt eine moderne Luxusmarke, und genau so muss man das Auto verstehen. Wenn ich den 11er redesigne, muss ich verstehen, was ist die Essenz des 11ers? Bei vielen unserer Ikonen ist das so. Aber wie gesagt, das fängt mit der Marke an und geht zum Produkt.

STANDARD: Ist es zufriedenstellend für einen Designer, seine Vorstellungen über die gesamte Modellpalette drüberzuziehen?

Wagener: Das ist der richtige Ansatz. Bevor wir überhaupt designt haben, haben wir eine Strategie gemacht. Nicht nur eine Designstratgie, sondern auch eine Markenstrategie. Damals, vor zehn Jahren, kam das Thema Luxus, moderner Luxus raus und die sinnliche Klarheit. Das war der Masterplan, das Schachbrett, um alle Autos entsprechend durchzudesignen. Nicht alle gleich (Audi), sondern verschiedene Ausführungen, wie vorhin erwähnt. Und das ganze Denkkonstrukt dann immer weiter zu entwickeln. Wir fragen uns das selber. Kommt jetzt sensual disruption? Machen wir Schluss mit sensual purity? Vielleicht. Aber eigentlich wär’s dumm. Weil, das, was wir in jahrelanger Arbeit uns ausgedacht haben, ist ja richtig, es funktioniert, steht zur Marke. Dieser Stil ist schon sehr prägend, mit immer mehr, die auf den Zug aufspringen. Da ist es wichtig, dass das Original seinen Stil behält – da sind wir auch wieder beim G-Modell.

STANDARD: Ihre persönlichen Favoriten aus der Automobilgeschichte?

Wagener: Die ich gemacht habe (lacht)?

STANDARD: Beides.

Wagener: Der 911er natürlich. ich liebe den 11er. Und den 300 SL. Die Autos sind mit die schönsten der Neuzeit. Ein E-Type ist auch immer schön, aber inflationär. Dann die Alfas aus der Vorkriegszeit, auch unser Autobahnkurier, 540 K. Von den eigenen: Klar, ein GT ist mit das schönste Auto, das wir gemacht haben, das Coupé, aber die sind ja alle toll, auch die A-Klasse muss man nennen. Die ist das Auto, von dem man rückblickend sagen wird, das hat nicht nur uns am meisten verändert, sondern auch das ganze Segment.

STANDARD: Auch die Außenwahrnehmung, mit einer Klientel, die früher nie an Mercedes gedacht hatte.

Wagener: 20 Jahre jünger! Das hat man noch nie geschafft! Das ist ein Erdrutsch. Auch mit den Derivaten, wie mit dem CLA in den USA: 30 Jahre alte Kundschaft, 80 Prozent Neukunden. Die Rechnung ist mehr als aufgegangen.

GORDEN WAGENER, Designchef der Daimler AG, wurde 1968 in Essen geboren, dort war er seit 1997 tätig, vorher Exterieur-Designer bei VW, Mazda, GM. (Andreas Stockinger, 27.1.2018)