Der Papierene, Matthias Sindelar, am Ball.

Foto: Bezirksmuseum Favoriten

Gedenktafel für Sindelar in der Annagasse 3 im ersten Wiener Gemeindebezirk.

Foto: Standard/Cremer

Mit dem Fußball hatte Victor Silberer eher nicht so viel am Hut. Denn der Fußball hatte sich, als der Sport Silberer zum gemachten Mann machte, erst seinen Platz zu schaffen gehabt in der merkwürdig wirklichkeitsverzerrenden Abendsonne der Donaumonarchie.

Der 1846 Geborene war reich geworden mit seiner 1880 gegründeten "Allgemeinen Sport Zeitung", die sich selbst rühmte, Kontinentaleuropas größtes Sportblatt zu sein. In der aber lief der Fußballsport – nach einer aus dem für Silberer weit wichtigeren Pferderennsport bekannten Formulierung – lange Zeit nur unter "ferner liefen". Er war ursprünglich mehr Spleen als Geschäftsidee. Ein Spleen mit Pech noch dazu. Ein erstes großes Turnier in Wien wurde zur Feier des 50-jährigen Thronjubiläums Franz Josephs auf der Hohen Warte ausgetragen. Am 18. September 1898. Tags zuvor wurde allerdings Kaiserin Elisabeth in die Kapuzinergruft getragen.

In den folgenden 40 Jahren sollte sich der Stellenwert des Kickens aber gründlich ändern. Erst allmählich, dann geradezu rasant. 1908 schon tagte – 60. Thronjubiläum! – die Fifa in Wien. 1911 startete dann der reguläre Meisterschaftsbetrieb.

Zuschauer stürmten die Spielanlagen

Der Krieg hemmte diese Entwicklung keineswegs, ganz im Gegenteil. 1914 gab es 14.000 registrierte Vereinskicker. 1920 hatte der Österreichische Fußballverband 37.000 zu den Akten genommen. Neue Vereine wurden gegründet, Zuschauer stürmten die Spielanlagen. Der Fußball war innerhalb kürzester Zeit zu einem Massenspektakel geworden.

Auch ein erster Star war bald gefunden. Der Rapid-Spieler Josef Uridil erhielt – noch nicht gehandicapt von sprachlicher Übersensibilität – den Kriegsnamen "Tank". Dem schrieb 1922 der große Hermann Leopoldi gleich eine Hymne, in der sich die hellsichtige Erkenntnis findet: "Den, der ein Fußballmtach geseh'n/ reizt sonst nichts mehr in Europa/ man kann auch in die Oper geh'n!/ Doch was ist schon eine Oper?"

Als Victor Silberer starb – 1924 war das –, drehte der Tank schon seinen ersten Film; "Pflicht und Ehre hieß er. Der Fußball war also doch noch zu einem echten Geschäft – was heißt? Zum Teil des Showbiz! – geworden. Es gab Uridil-Bier, Uridil-Kaffee, Uridil-Zuckerl.

Krieg als Schwunggewicht

Dass der Krieg für den Fußball gewirkt hat wie ein Schwunggewicht, darüber ist viel gerätselt worden. Zweifelsohne ist er schon vor 1914 vom Militär für sich entdeckt worden. Zweifelsohne sind die im und in den Krieg nachrückenden Kaderleute schon infiziert gewesen mit dem gerade in höheren Schulen und an Universitäten grassierenden Ballesterervirus. Sie waren es, die nun auch das Fußvolk mit dem Fußball infizierten.

Heimgekehrt, bildeten sie alle zusammen ein Reservoir nicht nur fürs Spielfeld, sondern auch für die Tribüne. Dort saß oder stand nun, anders als noch vor 1914, Sachverstand; gepaart auch mit der hart erworbenen Gewohnheit, im Fall des Falles direkt zur Sache zu gehen. Alles war also schon da: Massenpublikum und Hooliganserl.

In Deutschland war das nicht anders. Vorm Krieg, erzählte CDU-Generalsekretär Peter Tauber, der darüber dissertierte, der "Frankfurter Allgemeinen", waren 115.000 Fußballer im DFB organisiert, "in den zwanziger Jahren überschreitet die Mitgliederzahl die Millionengrenze". An der Westfront war die Rekrutierungsquote für den Fußball vielleicht noch höher als anderswo.

Kickerl zwischen Schützengräben

Es kam diesbezüglich, so wird es überliefert, gar zu haarsträubenden Begebenheiten. Zu Weihnachten 1914 sollen in Flandern deutsche und britische Soldaten aus den Schützengräben gestiegen sein, um ein Kickerl zu wagen, bevor sie wieder aufeinander zu schießen hatten.

Im nachkriegerischen Kleinösterreich und seiner k. u. k. Nachfolgekollegenschaft kam zum Fußballvirus noch etwas ganz Spezielles hinzu. Anders als in Deutschland hatte hierzulande das Pariser Friedensdiktat einen unerwarteten Kollateralnutzen: die Internationalisierung des Spielbetriebs, während Deutschland nicht nur unterm sportlichen Siegerboykott litt, sondern auch unter seiner selbstverantworteten Regionalverfasstheit im Spielbetrieb. Man briet im je eigenen Saft. Erst 1963, neun Jahre nach dem WM-Titel 1954, startete in der BRD die Bundesliga.

Prag, Budapest und Wien dagegen rankten sich von Anfang an aneinander hoch. Die alten Netzwerke, die jetzt "internationale Beziehungen" waren, funktionierten ja noch. Der Fußball atmete so im Neuen noch das Alte. Von außen war das noch klarer zu sehen. Die Italiener sahen in der tschechischen, ungarischen und deutschösterreichischen Spielweise nur eine einzige, die sie calcio danubiano nannten. Dieser war also gewissermaßen jene von Robert Musils ironischer Häme erdachte Parallelaktion – 70. Thronjubiläum gegenüber einem bloß 30-jährigen in Berlin –, die sich aus den bekannten Gründen nicht ins Wirkliche wuchten hat lassen.

Die erste kontinentaleuropäische Profiliga

Dieser mitteleuropäische Fußball, dem die Italiener sich bald angeschlossen haben, hatte auch eine Art Grafen Leinsdorf. Hugo Meisl, ein hochdekorierter Weltkriegshauptmann auch, hatte freilich weniger Möglichkeits- als Wirklichkeitssinn, sodass es diesmal – das Jeiern des Vaters des Manns ohne Eigenschaften ins Gegenteil kehrend – so war, dass wir das Zündnadelgewehr eingeführt hatten, bevor sie an eine Überraschung dachten.

1924 wurde in Wien die erste kontinentaleuropäische Profiliga eingeführt. Prag und Budapest zogen umgehend nach. 1927 setzten Meisl und seine Freunde mit der Gründung des Mitropacup-Komitees, das sein Büro in Wien hatte, den ersten Schritt Richtung europäischer Fußballverband. Der Mitropacup war die Kinderstube der Champions League, der Nationenpokal die für die Fußball-Europameisterschaft. Auch ein Bewerbssponsor fand sich: die deutsche Schlaf- und Speisewagengesellschaft Mitropa.

Sportlich begleitet hat diese erstaunliche Verwirklichungssinnlichkeit des postkakanischen Fußballs ein englischer Fußballlehrer, der im Sommer 1914 glücklicherweise in Wien war, dort als feindlicher Ausländer unter Kuratel gestellt wurde, daraufhin gerne nach Budapest übersiedelte, wo er aus Dankbarkeit das alte schottische Passspiel zur MTK-Schule veredelt hat, in die nach dem Krieg gerne auch die Wiener gingen, wo schon der böhmische Lehrer den Lochpass als mala ulica gedrillt gehabt hatte.

Zieglböhm-Secondo Matthias Sindelar

Der gelehrigste Schüler dieses Jimmy Hogan hieß Matthias Sindelar, ein Zieglböhm-Secondo aus Favoriten, den noch dazu eine Knieverletzung endgültig aus der Profi-Laufbahn geworfen hätte, wäre der Krieg nicht auch ein so guter Lehrmeister gewesen für die orthopädische Chirurgie.

Und so konnte der Papierene, wie sie ihn wegen seiner ansehnlichen Körperlosigkeit im Spiel genannt haben, die Wiener Austria 1933 und 1936 zu zwei Mitropacup-Titeln führen. Und die Nationalmannschaft zum Wunderteam machen. Das Praterstadion – der Grundstein wurde zum zehnjährigen Jubiläum von Republik und Parallelaktion gelegt – wurde so erst wirklich zu einer Art nationaler Weihestätte. Es gab – Uridil war vergleichsweise bereits ein alter Mann – dann auch Sindelar-Joghurt, Sindelar-Mantel, einen Sindelar-Ball; und den Film namens "Roxy und das Wunderteam".

Im Juni 1938 gab es die dritte Fußballweltmeisterschaft in Paris. Herr Berger – wie man den Reichstrainer Sepp Herberger in Wien zuweilen auch genannt hat – wollte Hitler ballesterisch eine großdeutsche Freude machen. Durch diese Rechnung machte der die Eidgenossen coachenden Wiener Karl Rappan mit der Erfindung seinen "Schweizer Riegels" einen dicken Strich.

Wechsel ins Kaffeesiederfach

Matthias Sindelar war da aber eh schon nicht mehr dabei. Er war ins Kaffeesiederfach gewechselt, betrieb sein nunmehr "arisiertes" Stammcafé Annahof in der Laxenburger Straße ohne weiteres Bedenken als "Café Sindelar".

In der Stadt – Zufälle gibt's! – gab es auch einen Annahof. In der Annagasse 3 hatte eh schon besagter Victor Silberer 1895 nach nur zweijähriger Bauzeit ein prächtiges Gebäude errichtet. Einen Ballsaal gab es, Theater, Restaurants. Ein wahrer Palast der Vergnügungen bis spät nach dem zweiten Krieg. In diesem Haus betrieb eine gewisse Camilla Castagnola eine sogenannte Gulaschhütte namens "Zum Weißen Rössel", eine gern besuchte Verpflegungsstation vergnügungssuchender Herrschaften.

In diese an der Adresse auch logierende Camilla Castagnola war Sindelar verliebt bis über die Ohren. In der Nacht vom 22. zum 23. Jänner 1939 taten die beiden, was Verliebte eben gerne tun. Dabei übersahen sie das aufziehende Tief aus dem Westen und den schadhaften Kamin. Das Kohlenmonoxid wäre aber auch bei höherer Aufmerksamkeit nicht zu riechen gewesen.

Und so also endete dann der calcio danubiano: Er schlief entspannt ein, erhielt sich aber – das ist der einzig freundliche Gruß der Kohlenmonixidvergiftung – seine fast lebensechte rosa Gesichtsfarbe. (Wolfgang Weisgram, 27.1.2018)