Im Herbst 1919 hat die Kohlekrise Österreich fest im Griff. Der Rohstoff ist besonders für die Energieversorgung Wiens essenziell. "Das Wiener Elektrizitätswerk bekommt nicht einmal ein Viertel der Kohle, die es braucht. Die Vorräte sind erschöpft", meldet die Arbeiter-Zeitung am Donnerstagmorgen des 18. September.

Die Straßenbahn werde auf Anordnung der Stadtverwaltung den Betrieb bis auf weiteres einstellen. Tausende Arbeiter, Angestellte und Beamte können damit vom Stadtrand aus nur in langen Fußmärschen zu ihren Arbeitsplätzen gelangen. Alle elektrischen Aufzüge Wiens werden stillgelegt. Ausnahmen gibt es nur "unter Vorlage eines ärztlichen Attests", wie die Zeitung schreibt. Um Kohle zu sparen, müssen zudem Kaffee- und Gasthäuser sowie Haustore ab acht Uhr abends geschlossen bleiben.

Die Kohlekrise

In den Monaten nach Ausrufung der Republik Deutschösterreich im November 1918 beschäftigt Politik, Zeitungen und Bürger kaum ein Thema so intensiv wie der Kohlemangel. Die Menschen frieren in ihren Wohnungen, weil sie nicht heizen können. Im Winter müssen Schulen vorübergehend geschlossen werden.

Die Industrie kämpft mit Produktionsstillständen. Auslöser für die Krise ist die neue Grenzziehung in Europa. Als die Monarchie implodiert, werden auf dem bisher einheitlichen Gebiet elf Staatsgrenzen eingezogen. Österreich, Ungarn und die Tschechoslowakei werden eigene Staaten. Teile des k. u. k. Gebiets werden Rumänien, Jugoslawien und Polen zugeschlagen.

Eine Freihandelszone zerbricht

Die Monarchie bildete eine Freihandelszone ohne Zollgrenzen, mit einer Währung. Eine einheitliche Rechtsgrundlage war die Basis für den Handel mit Waren und Dienstleistungen. 1918 endet diese Union. Die für Österreich wichtigen Kohlelager befinden sich in Böhmen, das nun in der Tschechoslowakei liegt. Die Regierung in Prag weigert sich, Kohle für die Ausfuhr freizugeben.

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Kaiser Franz Joseph zu Gast im Škoda-Werk von Pilsen. Die Monarchie verfügte über eine gemeinsame Währung. Interne Zollgrenzen gab es keine.
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1918, das Jahr der Grenzziehung, scheint aus heutiger Perspektive wieder interessant zu sein. Seit 1945 rückt Europa wirtschaftlich enger zusammen. Zölle fielen, Hemmnisse für den Kapitalverkehr wurden abgebaut. Global ging die Tendenz in die gleiche Richtung.

Doch das ändert sich. Grenzen feiern ein Comeback in Politik und Wirtschaft. Mit dem Brexit steht der erste Austritt eines EU-Landes bevor. Die Flüchtlingskrise hat dazu geführt, dass Grenzkontrollen in den Schengen-Raum zurückkehrten. In Katalonien und Schottland wird über eine nationale Unabhängigkeit diskutiert. In den USA triumphierte Donald Trump mit dem Versprechen, eine Mauer zu Mexiko zu bauen im Wahlkampf.

Erfahrungen dazu, was geschieht, wenn die Globalisierung rückabgewickelt wird, gibt es kaum, und wenn, dann im Zusammenhang mit dem Kollaps kommunistischer Regime. Das Jahr 1918 liefert Anschauungsmaterial dafür, was passiert, wenn ein kapitalistisches Weltreich kollabiert. Lässt sich daraus etwas für die Zukunft lernen?

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US-Präsident Donald Trump versprach seinen Anhängern eine Mauer zu Mexiko.
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Die Grenzziehungen nach 1918 sind laut Historikern nicht der alleinige Auslöser für die wirtschaftlichen und politischen Turbulenzen der Zwischenkriegszeit. Der Erste Weltkrieg hatte Millionen an Menschleben gefordert und unglaubliche Ressourcen verschlungen. Die Industriebetriebe in der Monarchie standen 1918 unter militärischer Zwangsverwaltung, produzierten also fast nur für die Rüstungsindustrie. Hinzu kamen ungelöste Konflikte zwischen Kapital und Arbeit, die ideologische Spaltung der Gesellschaft.

Die Art und Weise, wie die Desintegration der Monarchie stattfand, verschlimmerte diese Krisen aber. "Die Trennung wurde nicht einvernehmlich, sondern einseitig durchgeführt", sagt der Historiker Peter-Robert Berger.

Dramatische Auswirkungen auf Handel

Dramatische Auswirkungen hatte dies auf den Handel. Während die Monarchie autark war und abseits von Überseeprodukten wie Kautschuk wenig importieren musste, war das neue Österreich auf Einfuhren von Erdöl, Kohle, Leder und Nahrung angewiesen.

Die durch den Krieg aufgeblähte Industrie bedurfte ausländischer Absatzmärkte. Österreich war zunächst der einzige Nachfolgestaat der Monarchie, der seine Grenzen offen hielt. Die übrigen Länder setzten auf Protektionismus. Neben Schutzzöllen wurden Einfuhr- und Ausfuhrverbote in Kraft gesetzt. Devisentransaktionen waren von Genehmigungen abhängig. Ungarn etwa sperrte seinen Markt für vormals aus Österreich importierte Möbel, Schmuck und Spielzeug ganz.

Mit dieser Politik versuchten die neuen Staaten, den nationalen Aufbau zu forcieren, und zwar ungeachtet der unmittelbaren wirtschaftlichen Folgen, so der Historiker Berger. Um diese wollte man sich später kümmern. In der Tschechoslowakei, Jugoslawien, Polen und Ungarn war die eigene politische Elite erstmals Herr im eigenen Haus. Es galt sich abzugrenzen.

Die Flüchtlingskrise löste neuerliche Grenzkontrollen im Schengenraum aus.
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Oft fachte eine ganz komplexe Gemengelage die Krise an. Dass aus der Tschechoslowakei 1919 kaum Kohle nach Österreich kam, geschah nicht nur aus böser Absicht, wie Zeitungen in Wien damals schrieben. Der slowakische Landesteil leide selbst unter einem Mangel. Diese Region wurde vormals von Ungarn beliefert. Diese Transporte standen aber still, weil Ungarn keinen Zugang mehr zu seinen Kohlelagern hatte. Die gehörten nun zu Rumänien, das im Streit um Grenzgebiete einen Exportstopp verfügte.

Polen hätte Österreich Kohle geliefert, hatte aber keine Wagons. Österreich hätte die gehabt, konnte sie aber nicht einsetzen. Man fürchtete, dass die Wagons in der Tschechoslowakei konfisziert würden. Der Fuhrpark aus der Monarchie war noch nicht auf die neuen Staaten aufgeteilt.

1700 Prozent Inflation

Die Abtrennung der Währungsräume verlief chaotisch. Die einzelnen Staaten begannen Krone-Scheine abzustempeln und damit für sich zu reklamieren. In Österreich wurde die Inflationspolitik aus dem Ersten Weltkrieg fortgesetzt. Um die schwächelnde Industrie und das Gewerbe zu stützen sowie um soziale Konflikte zu verhindern, druckte die Notenbank in Wien Geld. Die Regierung erhöhte ihre Ausgaben und Defizite. Die Löhne wurden automatisch an die Preissteigerungen angepasst.

Durch diese Politik blieb die Nachfrage der Konsumenten und des Staates stabil. Doch die Ausweitung der Geldmenge bei gleichzeitigen Produktionsproblemen bedeutete, dass die Nachfrage nach Waren nicht befriedigt werden konnte. Die Preise stiegen immer schneller. 1922 erreichte die Inflation 1.700 Prozent. Eine Währungsreform, ein Sparkurs, Notkredite durch den Völkerbund stabilisierten die Finanzlage Österreichs ab 1923. Als Folge dieser Politik stieg die Arbeitslosigkeit an. Diese Jobkrise wurde in der Aufschwungperiode bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise nicht mehr bewältigt.

Der aufgeblähte Bankensektor

Der Kollaps der Monarchie bedeutete, dass ein Markt mit 55 Millionen Menschen verlorenging, Österreich hatte etwas mehr als sechs Millionen Einwohner.

Unternehmen wurden entlang nationaler Grenzlinien neu aufgestellt. Prominentes Beispiel dafür ist Škoda: Das Industrieunternehmen hatte seine Geschäftsleitung in Wien, verlegte diese aber auf Anordnung aus Prag. Das kostete Wien zusätzlich Arbeitsplätze.

Viele Unternehmen waren schlicht zu groß für die neuen Verhältnisse. Ein gutes Beispiel dafür ist die Creditanstalt (CA), sagt der Wiener Historiker Dieter Stiefel.

Dem Selbstverständnis des Bankmanagements hätte es nicht entsprochen, sich radikal zu verkleinern. Das Kreditinstitut versuchte daher mit aller Kraft, im Geschäft in Osteuropa aktiv zu bleiben. Die Bank wächst nach 1918 sogar weiter, schluckt auf staatliche Anordnung eine Reihe kleinerer Banken, die als Folge von Korruption oder Währungsspekulationen ins Straucheln geraten. Diese Strategie setzt sich fort, bis die CA als Folge der Weltwirtschaftskrise selbst kollabiert und vom Staat ob ihrer Größe für 1,2 Milliarden Schilling aufgefangen werden muss.

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Ein Bild nach dem großen Börsencrash 1929. Vor einem Arbeitsamt in New York.
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Ende des demokratischen Experiments

Handelskonflikte, Inflation, Bankenkrisen: Die Erste Republik versuchte Antworten zu finden – nicht immer ohne Erfolg. Nach einer ersten Periode der Abschottung begann Österreich eine aktive Handelspolitik zu betreiben – die Versorgung mit Kohle und Nahrungsmitteln wurde stabilisiert. Aber die Probleme, insbesondere im Bankensektor, waren ein Keim, der zur Verschärfung der Wirtschaftskrise ab 1929 führte.

Die ökonomischen Probleme waren schließlich so tiefgreifend, dass der Glaube, die Krisen mit demokratischen Mitteln lösen zu können, schwand. Bis die Christlichsozialen das demokratische Experiment beendeten.

Auf die Art der Grenzziehung kommt es an

Was ist die Lehre daraus? Vom STANDARD befragte Historiker sind sich nicht einig. "Man sieht, dass wirtschaftlicher Nationalismus nicht die Lösung sein kann, wenn eine Großmacht zerfällt", sagt der Historiker Berger. Lehren für die aktuellen politischen Konfliktlinien vermag er nicht zu erkennen.

Die britische Premierministerin May auf Besuch in einer Fabrik in Stoke-on-Trent.
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Der Münchner Ökonom Gabriel Felbermayr, der intensiv zu Globalisierungsfragen forscht, denkt anders. Kleine, selbstständige Staaten seien wirtschaftlich überlebensfähig. Das Krisenjahr 1918 lehre aber, wie fatal es sein kann, wenn zu einer politischen Grenzziehung plötzlich eine wirtschaftliche hinzukomme.

Er glaubt, dass alles davon abhängt, wie die aktuellen Konflikte politisch gemanagt werden, ob es also gelingt, einen ungeordneten Brexit zu verhindern. Anderes Beispiel: Sollte sich Katalonien von Spanien losschlagen, beide Staaten aber eng verflochten bleiben, spreche nichts dagegen, dass dies ein Erfolgsmodell werden kann. Anders wäre das, wenn auf die Unabhängigkeit die harte Abschottung folgt. (András Szigetvari, 26.1.2018)