Magnus Carlsen beobachtet Anish Giri.

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Der Norweger gewinnt das Turnier von Wijk aan Zee bereits zum sechsten Mal.

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Tiebreak 1.

Anton Gerasimov

Tiebreak 2.

Anton Gerasimov

Wien/Wijk aan Zee – Die Niederländer hätten sich so gefreut. 33 Jahre ist es her, dass ein gewisser Jan Timman das "Wimbledon des Schachs" geheißene Turnier zu Wijk aan Zee für sich entscheiden konnte. Eine lange Durststrecke für das schachbegeisterte Volk, das neben mehreren Top-Großmeistern mit Max Euwe auch einen Weltmeister des Spiels (und späteren FIDE-Präsidenten) hervorgebracht hat.

Zur bereits 80. Auflage des langlebigsten Turniers im internationalen Schachkalender hätte es endlich wieder klappen können: Der erst 23-jährige Lokalmatador Anish Giri, dem immer wieder eine übermäßige Liebe zum Unentschieden nachgesagt wird, war mit zwei Siegen ungewohnt energisch ins Turnier gestartet. Da der junge Mann selbst für den vier Jahre älteren Schachweltmeister Magnus Carlsen verdammt schwer zu schlagen ist und dem Norweger auch diesmal in Runde vier erfolgreich ein Remis abknöpfte, wuchsen die holländischen Bäume rasch in den Himmel.

Kein Knock-out

Allerdings: Wijk aan Zee ist lang, sehr lang. Die 13 zu spielenden Runden klassisches Schach, bei denen jeder Teilnehmer jedem anderen genau einmal gegenübersitzt, sind eines der Alleinstellungsmerkmale des gegenwärtig vom indischen Stahlkonzern Tata finanzierten Turniers. Während sich die Weltelite vor knapp hundert Jahren noch bevorzugt in Kurorten wie Karlsbad traf, um dort in eleganten Hotels monatelang ein einziges gemächliches Rundenturnier zu Ende zu bringen, erscheinen die zwei Wochen Wijk den heutigen Spitzenspielern bereits als Marathon, der sie an die Grenze ihres schachlichen Leistungsvermögens treibt.

Dem Publikum allerdings gefällt das langsame Brüten: Die hohe Rundenanzahl vermeidet Zufallssieger effektiv, das gut durchmischte Teilnehmerfeld sorgt regelmäßig für kämpferisches Schach und überdurchschnittlich viele entschiedene Partien. Durch das holländische Dorf weht der Wind der Schachgeschichte, sich hier in die Siegerliste einzutragen zählt mehr und dauerhafter als Höhenflüge bei Knock-out-Championaten.

Mamedyarovs Zwischenspurt

Bei der diesjährigen Auflage schickte sich zwischenzeitlich der Aserbaidschaner Shakhriyar Mamedyarov an, Giri sowie Carlsen auszubremsen und sich seinen ersten Titel in Wijk aan Zee zu holen. Mit drei Siegen en suite in den Runden fünf bis sieben setzte sich Mamedyarov, der schon 2017 einen beeindruckenden Spielstärkezuwachs unter Beweis gestellt hatte, alleine in Front und erklomm damit auch in der Live-Elo-Liste einen klaren zweiten Platz hinter Weltmeister Carlsen.

Dann allerdings wurde der Aseri in Runde acht von Giri klassisch positionell zusammengeschoben. Mamedyarov blieb weiter dran, kurz vor Ultimo konnten sich aber Carlsen und Giri mit ihrem jeweils fünften Sieg in Runde 12 entscheidend absetzen. Aus dem Dreikampf wurde ein Zweikampf – und was für einer.

Gepflegte Rivalität

Denn klarerweise sind Giri und Carlsen Rivalen, der Niederländer wird immer wieder gerne genannt, wenn die Frage zu beantworten steht, wer den selbst noch blutjungen Weltmeister denn eines Tages dauerhaft entthronen könnte. Die sportliche Rivalität wird von Anish Giri zudem bereits seit einiger Zeit durch gezielte Sticheleien in Richtung Carlsen um eine zwischenmenschliche Dimension bereichert: Als der Weltmeister im vergangenen Jahr an bewusstem Ort in seiner Partie gegen Giri ein dreizügiges Matt versäumte (und sich später ins Remis schicken musste), sprach der Niederländer im Interview frech vom "peinlichsten Moment" in Carlsens Schachkarriere. Auch dieses Jahr konnte Giri es nicht lassen, auf Twitter launig darüber zu berichten, dass der Norweger am spielfreien Tag einen Teil des Sponsoren-Dinners geschwänzt habe.

Carlsens sechster

Ob es sich um harmlose Späße oder eine ernsthafte Verstimmung zwischen den beiden jungen Herren handelt, ist nicht überliefert. Tatsache bleibt jedoch: Am Schachbrett hat Magnus Carlsen die Nase bis jetzt noch vorn. Gegen den Weltmeister ein Tiebreak um einen Turniersieg spielen zu dürfen, ist einerseits eine Ehre – andererseits jedoch ein Himmelfahrtskommando. Mit verkürzter Bedenkzeit ist Carlsen in aller Regel noch tödlicher, auch Anish Giri durfte sich in zwei Partien à fünf Minuten plus drei Sekunden pro Zug von der Gültigkeit dieses Erfahrungswertes überzeugen. Carlsen entschied seine Weißpartie für sich und drehte in seiner Schwarzparzie danach eine Stellung mit Minusbauer so gründlich zu seinen Gunsten, dass Giri nur ein die Matchniederlage besiegelndes Remis-Angebot blieb.

Nichts wurde es also mit dem ersehnten ersten holländischen Heimsieg seit 1985 – stattdessen knackt der Weltmeister einen weiteren bedeutenden Rekord: Viswanathan Anand, dieses Jahr ebenfalls wieder mit von der Partie, hat das Traditionsturnier bisher fünf Mal gewonnen, Carlsen notiert ab nun als Einziger bei sechs Siegen. Mit seinen 27 gegenüber Anands 48 Lenzen hat er dafür zudem geringfügig kürzer gebraucht als der indische Ex-Weltmeister (und regierende Schnellschach-Weltmeister!), der dieses Jahr gleichwohl wieder ein beeindruckend starkes Turnier spielte und mit 8 aus 13 auf Platz fünf einkam.

Berliner Kandidaten

Mit zwei Siegen in den letzten beiden Runden schob sich ein weiterer Ex-Weltmeister auf den mit Shakhriyar Mamedyarov geteilten dritten Platz: Wladimir Kramnik falsifiziert gemeinsam mit Viswanathan Anand nur zu gerne die Hypothese, dass Spitzenschach heute ein Sport für junge Leute sei. Beim Kandidatenturnier, das von 10. bis 28. März in Berlin über die Bühne geht, muss der 42-jährige Russe nach dieser Leistung ebenso wie Mamedyarov zu den Favoriten gezählt werden. Acht Spitzengroßmeister werden im Kühlhaus Berlin in Kreuzberg um das Privileg rittern, den Weltmeister im November dieses Jahres in London in einem Wettkampf über zwölf Partien herausfordern zu dürfen.

Magnus Carlsen wiederum kann nach seinem sechsten Triumph in Wijk aan Zee in Ruhe holländische Erbsensuppe essen und das Aufeinandertreffen seiner potenziellen Herausforderer entspannt als Zuschauer auf sich zukommen lassen. Dass man sich gegen ihn auch beim zukünftigen WM-Kampf eher nicht auf ein Tiebreak einlassen sollte, hat der Weltmeister gerade einmal mehr beeindruckend unter Beweis gestellt. (Anatol Vitouch, 29.1.2018)