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Justin Welby, der Erzbischof von Canterbury, steht in der Kritik.

Foto: AP/Frank Augstein

In der Kirche von England gibt es massiven Streit um den Ruf eines der berühmtesten anglikanischen Theologen des 20. Jahrhunderts. Über Bischof George Bell, einem Verfechter der Ökumene und engem Vertrauten des Widerstands gegen Adolf Hitler, hänge der "erhebliche Schatten" des Verdachts, ein Sexualverbrecher gewesen zu sein – so hat es der Erzbischof von Canterbury, der höchste Geistliche der anglikanischen Kirche, zu Protokoll gegeben. Justin Welbys Urteil sei "unverantwortlich und gefährlich", betont hingegen eine Gruppe führender Zeithistoriker, darunter der Hitler-Biograf Ian Kershaw.

George Bells (1883–1958) Ruf gründet auf seiner langjährigen Arbeit für die Aussöhnung der Konfessionen, Ethnien und Völker. Die späteren Gründungsväter Indiens, Gandhi und Nehru, zählten ebenso zu seinen Freunden wie führende Katholiken, darunter der spätere Papst Paul VI. Mit dem 1945 hingerichteten Dietrich Bonhoeffer verband ihn aus dessen Zeit als Auslandspastor in London eine enge Freundschaft. Den verfolgten Christen der Bekennenden Kirche bot der Kirchenmann ebenso Zuflucht wie jüdischen Flüchtlingen aus Nazi-Deutschland.

Kritik an britischen Bombenangriffen

Im Krieg erhob der langjährige Bischof von Chichester in Südengland 1944 im Oberhaus seine Stimme gegen das Flächenbombardement deutscher Städte: Großbritannien dürfe die Barbarei der Nazis nicht mit gleicher Münze heimzahlen. Die unpopuläre Intervention kostete Bell den Job als Erzbischof von Canterbury, für den er prädestiniert schien. "Ohne Reue und ohne Vergebung", so predigte Bell zu Weihnachten 1945 Deutschen und Briten gleichermaßen, "gibt es keinen Neuanfang."

Kershaw zufolge ist Bell "der bedeutendste englische Kleriker des 20. Jahrhunderts". Lang nach seinem Tod benannte die Kirche von England Schulgebäude und Studienzentren nach ihm, seit knapp zehn Jahren gibt es zu seinen Ehren einen eigenen Gebetstag (3. Oktober) – ein Akt öffentlicher Anerkennung, der einer katholischen Seligsprechung nahekommt.

War dieser fromme, hart arbeitende Mann auch ein pädophiler Verbrecher? Diese Behauptung stellte vor gut zwei Jahren Bells Nachfolger im Bischofsamt, Martin Warner, auf: Er machte eine Entschuldigung und Entschädigungszahlung an eine Beschwerdeführerin – bekannt nur unter dem Pseudonym Carol – öffentlich. Dagegen erhoben schon bald prominente Bell-Kenner, Akademiker und Angehörige des Oberhauses Einspruch: Das Verfahren sei viel zu undurchsichtig gewesen; Warner habe weder Zeitzeugen noch Bells in Chichester lebenden Biografen Andrew Chandler befragt, auch die privaten Unterlagen des Bischofs nicht herangezogen.

"Lasset die Kindlein zu mir kommen"

Dabei ließen Carols Vorwürfe an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Sie habe im Alter zwischen sechs und neun Jahren regelmäßig eine Verwandte besucht, die damals im Bischofspalast arbeitete. Bell habe die Gelegenheit gesucht, mit ihr allein zu sein, sie auf seinen Schoß gesetzt, mit erigiertem Penis unsittlich berührt und mit Drohungen eingeschüchtert. Die Anschuldigungen gipfelten in der Behauptung, der Bischof habe sich neben seiner Sexualstraftaten auch noch der Blasphemie schuldig gemacht, indem er bei der Ejakulation Lukas 18,16 zitierte ("Lasset die Kindlein zu mir kommen").

Nach monatelanger öffentlicher Kritik stimmte die Kirche von England der unabhängigen Untersuchung durch einen führenden Kronanwalt zu. Ein Jahr lang ging Lord Alex Carlile den Vorfällen nach, Fazit des mit Anhängen knapp 150 Seiten starken Berichts: Die Zahlung an Carol – vielsagend von der Kirche stets als "Opfer" eingestuft – sei "unhaltbar und falsch" gewesen.

Zwar hätten Bischof Warner und seine Kirchenbeamten "in gutem Glauben" gehandelt, aber einen Fehler nach dem anderen begangen. "Unzulänglich, nicht fair, nicht angemessen, kein glaubwürdiges Beweismaterial" – der Bericht lässt kein gutes Haar an einer kircheninternen Untersuchung, die "auf der Annahme gründete, Bell sei schuldig".

"Erheblicher Schatten des Verdachts"

Genau diese These wiederholte Welby bei der Veröffentlichung des Carlile-Berichts, indem er vom "erheblichen Schatten des Verdachts" sprach. Später stellte er sogar einen Zusammenhang her zwischen dem vor 60 Jahren verstorbenen Bischof Bell und einem verurteilten Sexualverbrecher der Diözese Chichester, Suffraganbischof Peter Ball, 85.

Der Erzbischof verletze "die grundlegendsten Prinzipien historischen Verständnisses", glaubt die Gruppe von Historikern, zu der neben Kershaw auch die Biografen zweier Vorgänger Welbys sowie Bell-Biograf Chandler gehören. "Geschichtsschreibung kann nicht aus Anschuldigungen bestehen", schreiben sie; Welbys Handhabung der Verdächtigungen gegen den prominenten Vorgänger im Bischofsamt sei "unvertretbar".

Welby droht nun weiteres Unheil. Im Oberhaus forderten vergangene Woche führende Anglikaner, die Kirche von England müsse "die Unschuldsvermutung gelten lassen", auch für längst Verstorbene. Und bei der Synode im Februar wollen einflussreiche Bell-Anhänger den Fall zur Sprache bringen. (Sebastian Borger aus London, 29.1.2018)