Semih Özakça mit seiner Frau Esra im November.

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Ankara/Athen – Ganze sieben Richter hat der türkische Staat aufgeboten, um 103.276 Anträge zu prüfen. So viele Beamte wollen ihre Wiedereinstellung erstreiten. Nach der Verhängung des Ausnahmezustands in der Türkei im Sommer 2016 waren sie per Dekret entlassen worden. Das zu überprüfen wird mit den Richtern der staatlichen Untersuchungskommission zum Ausnahme- zustand wohl Jahre dauern. Bei den zwei bekanntesten Rebellen gegen die Massentlassungen ging es aber nun schnell. Die Kommission entschied im Fall der hungerstreikenden Lehrer Nuriye Gülmen und Semih Özakça: Antrag abgelehnt.

Fast ein Jahr lang – 324 Tage – hielten die Literaturdozentin und der Volksschullehrer einen Hungerstreik durch, bei dem sie zumindest Tee, Zucker, Salz und Vitamine zu sich nahmen. Gülmen wog zuletzt 33 Kilogramm, Özakça 45,3. In einer Erklärung, die sie vergangenen Freitag verlasen, gaben die Lehrer das Ende ihres Hungerstreiks bekannt; ihren "Widerstand" würden sie jedoch fortsetzen und nun vor Gericht eine Klage auf Wiedereinstellung in den Staatsdienst versuchen.

Zivilgesellschaft erleichtert

Gülmens und Özakças Entscheidung, den Hungerstreik zu beenden, nahm die türkische Zivilgesellschaft mit Erleichterung auf; der Tod der beiden Lehrer war auf absehbare Zeit erwartet worden. Der weitere Rechtsweg dürfte jedoch schwierig werden. Denn bald nach der Verhängung des Ausnahmezustands hatte das türkische Verfassungsgericht entschieden, sich nicht mit den Notstandsdekreten zu befassen. Diese werden am Parlament vorbei vom türkischen Staatspräsidenten Tayyip Erdogan erlassen und auch von den Ministern seiner Regierung unterschrieben.

Die siebenköpfige Untersuchungskommission, die vor einem Jahr im Amtsblatt verkündet worden war und im Juli 2017 ihre Arbeit aufgenommen hatte, ist dabei ein Ausnahmefall: der einzige Rekurs gegen die Notstandsdekrete, der türkischen Bürgern in einer rechtsstaatlichen Anmutung offensteht.

Die Kommission kam erst auf Drängen des Europarats und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zustande. Denn das Straßburger Gericht sah nach Putsch und Verhängung des Ausnahmezustands in der Türkei eine enorme Welle von Klagen auf sich zurollen. Als Ankara die Kommission einrichtete, soll der Gerichtshof für Menschenrechte rund 12.600 Klagen türkischer Bürger fallengelassen haben. Antragsteller in Straßburg müssen in der Regel erst alle nationalen Rechtswege ausgeschöpft haben.

Die Untersuchungskommission ist in Wirklichkeit größer als ihre sieben Köpfe: Knapp 200 Personen sollen bei dieser neuen Behörde beschäftigt sein, die beim Premierminister angesiedelt ist. Ende Dezember traf sie ihre ersten rund 100 Entscheidungen. Veröffentlicht werden sie nicht. Die Antragsteller sollen auch keine Begründung erhalten. Gülmen und Özakça waren während ihres Hungerstreiks als angebliche linksextreme Terroristen verhaftet worden. Özakça wurde freigesprochen, Gülmen in erster Instanz zu sechs Jahren Haft verurteilt. (Markus Bernath, 29.1.2018)