Über 1700 Kommentare gibt es zu dem Frage-Antwort-Artikel über Abschiebungen.

Foto: derStandard.at

Familie Tikaev im Rückkehrzentrum Schwechat.

Foto: Daniel Landau

Wien – Keine drei Stunden war am 17. Jänner 2018 der erste STANDARD-Artikel über die – damals geplante, fünf Tage später durchgeführte – Abschiebung der tschetschenischen Familie Tikaev online. Da tauchte im Forum ein Link auf, der unter diesem und allen weiteren Artikeln zu dem Fall Anlass für Onlinemobbing von Eltern und Kindern Tikaev sowie ausufernde "Lügenpresse"-Vorwürfe gegen die Autorin bieten sollte.

Verlinkt wurde, von Postern mit unterschiedlichen Nicknames und immer wieder, auf das im Bundeskanzleramt ressortierende Rechtsinformationssystem des Bundes (RIS). Im dortigen Judikaturverzeichnis hatten User einen Spruch des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Oktober 2015 gefunden, in dem sie die Tikaevs erkannten – trotz durchgehender Anonymisierung der dort abrufbaren Schriftstücke.

Auf schlechten Betragensnoten herumgeritten

Der Artikel verschweige relevante Negativinformation über die Tikaevs, schrieben Poster dazu. Etwa dass zwei der vier Kinder in ihrem ersten Schuljahr schlechte Betragensnoten hatten: ein Umstand, auf dem in den Postings seitenweise herumgeritten wurde. Aussagen über die späteren Schulerfolge und die B2-Deutschkenntnisse des Vaters hingegen seien unglaubwürdig.

Ein Erklärungsversuch im Rahmen eines Frage-Antwort-Formats im STANDARD mehrere Tage später nutzte nichts: Er wurde verbal einfach weggewischt. Das Faktum, dass in dem Bescheid aus 2015 alle späteren Integrationsschritte naturgemäß nicht erwähnt sein können, dass aber genau sie Gegenstand des neuerlichen und trotz Abschiebung weiterhin offenen Bleiberechtsverfahrens sind, wurde für irrelevant erklärt.

Angriffe auf die Autorin

Stattdessen stieg die Empörung weiter an und ging in Poster-Angriffe auf die Artikelverfasserin über: "Inwieweit es für eine Journalistin ethisch vertretbar ist und sein soll, die Leserschaft umfassend zu informieren, und nicht nur selektiv das, was ihm/ihr halt in den Kram passt, preiszugeben, in einen Topf geworfen und gut vermischt mit emotionalem und moralischem Getue, und alle anderen Aspekte auszublenden und sogar zu leugnen, bis das Gegenteil bewiesen ist, müssen Sie sich selbst fragen", schrieb am 26. Jänner etwa Poster EpinEphriN. Auch Kündigungsforderungen gegen die Autorin wurden laut.

Nun sind derartige Empörungsstürme gegen Berichterstattung über umstrittene Abschiebefälle in Österreich nicht neu. Auch dass sie durch die Verlinkung von RIS-Dokumenten ausgelöst wurden, gab es schon öfter: ein bekanntes Aufschaukelungsmuster.

Namentlich kenntlich gemacht

Das wirft Fragen auf: Das RIS ist ein öffentlich einsehbares Onlinearchiv – aber ist es rechtens, wenn Personen durch Posten eines Dokuments, in dem sie anonymisiert wurden, erkennbar gemacht werden – so wie es im Fall der Tikaevs geschah, die in den Artikeln namentlich genannt wurden?

Nein, denn dabei handle es sich um einen Verstoß gegen das Datenschutzgesetz, antwortet der Datenschutzexperte Hans G. Zeger: "Anonymisiert heißt, dass auf eine Person nicht rückgeschlossen werden darf." Wichtig sei auch, wer für die neuerliche Kenntlichmachung die Verantwortung trage: Sollte die Information einem öffentlich Bediensteten weitergegeben worden sein, "etwa durch Verraten der Aktenzahl", so sei dies Amtsmissbrauch. Eine Privatperson riskiere eine Schadenersatzforderung.

Persönlichkeitsschutz verletzt

Auch der Persönlichkeitsschutz werde durch eine solche Verlinkung verletzt, "so der Inhalt des verlinkten Dokuments kommentiert wird", sagt die Medienanwältin Maria Windhager. Sie vertritt auch den STANDARD. Würden, wie in den Tikaev-Postings, außerdem "höchstpersönliche Details" erwähnt, werde zudem der Identitätsschutz gebrochen. Betroffene könnten dann auf Unterlassung klagen – so der Medieninhaber selbst, etwa in einem Artikel, gegen den Identitätsschutz verstoßen habe, sogar auf Entschädigung, erläutert sie.

Laut Zeger muss das "Recht auf Geheimhaltung bestimmter und bestimmbarer Personen" eingehalten werden – wenn dies mit einem "vernünftigen Aufwand" möglich ist. Das führt zu der Frage: Werden manche RIS-Dokumente nicht ausreichend anonymisiert? Oder muss angesichts fallbezogener Details in Medienberichten davon ausgegangen werden, dass selbst gewissenhaft anonymisierte Texte mit entsprechenden Stichworten gefunden werden können?

Wie Anonymisierung funktioniert

Die Anonymisierung werde im Auftrag der Richter von Kanzleimitarbeitern vorbereitet und dann "technisch durchgeführt", das funktioniere nach einem "präzisen, ausführlichen" Schema, sagt dazu eine Sprecherin des Bundesverwaltungsgerichts. Gestrichen würden etwa ethnische Informationen. Die Zugehörigkeit zur "tschetschenischen Volksgruppe" aber blieb in dem Spruch stehen.

Doch wer eigentlich sind die Poster, die Abgeschobene und Journalisten beschimpfen? Sind die Meinungen, die sie vertreten, mehrheitsfähig? Es handle sich um eine recht kleine Gruppe, antwortet die Publizistin und Netzexpertin Ingrid Brodnig unter Bezug auf eine Studie des Teams um Simon Hegelich an der Technischen Universität München.

"Weder schweigend noch die Mehrheit"

2016 wurde dort im Auftrag des ZDF die deutsche Facebook -Diskussion zu Geflüchteten analysiert. Im Umfeld der rechtsextremen AfD und von Pegida, so stellte sich heraus, gab es hyperaktive Nutzer, die täglich stundenlang damit beschäftigt waren, Beiträge zu kommentieren und zu liken. Der durchschnittliche Nutzer hingegen war weit passiver. "Flüchtlingsfeindliche Poster behaupten, die schweigende Mehrheit zu repräsentieren", sagt Brodnig. "Wir sollten uns vor Augen halten, dass sie weder schweigend noch die Mehrheit sind." (Irene Brickner, 29.1.2018)