Manche Dinge kann man schon im Kindergarten. Zählen zum Beispiel. Das beweisen und erklären mir meine gerade vier Jahre alt gewordenen Patenzwillinge gerne bei jeder sich bietenden Gelegenheit: Mit und ohne Finger, hin und wieder mit kleinen Zahlensprüngen – aber mit großem Enthusiasmus wird da referiert, wer da schon wie schnell wie weit kommt. Süß, aber abgesehen davon einfach eine Grundfertigkeit, die einen dann (hoffentlich) das ganze Leben über begleitet. Das bleibt einem. So wie die Fähigkeit zu gehen oder zu laufen: Zählen, Addieren und Subtrahieren – zumindest im ein- oder niedrigen zweistelligen Bereich – lernt man einmal. Dann geht es. Immer. Immer?

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Von wegen! Denn es braucht gar nicht so viel, damit der Kopf sich solcher Basisqualifikationen entledigt. Wenn ich Intervalle laufe, kann ich manchmal nicht bis vier zählen. Wenn ich im Rudel schwimme, ist es nicht anders. Wenn ich auf der Walze – am Rad – Vollgas gebe, habe ich mitunter Aussetzer und weiß nicht mehr, ob das jetzt der fünfte oder der 15. Antritt über 30 Sekunden ist. Und damit jetzt niemand beleidigt ist: Das ist natürlich nur bei mir so. Der Rest der Welt kann selbstverständlich problemlos auch dann noch im Kopf Wurzeln ziehen, Bilanzen analysieren, die Elektronenzahl der Elemente in der siebenten Nebengruppe in der richtigen Reihenfolge auf Sanskrit runterbeten und die Noten der Ouvertüre der Meistersinger rückwärts diktieren, wenn er oder sie gerade auf Anschlag sportelt. Eh klar. Und die Erde ist eine Scheibe.

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Denn natürlich bin ich nicht allein: "Das ist bei jedem so", tröstete mich mein Coach Harald Fritz, als wir letzten Sonntag unseren mittlerweile schon fast traditionellen Gruppen-Longjog abspulten. "Und es ist keine Frage der Intelligenz: Bei starker körperlicher Belastung schaltet das Hirn die kognitive Leistungsfähigkeit ab oder fährt sie zurück. Aber zugeben will das kaum wer: Die Leute zweifeln an sich – dabei ist das vollkommen normal." Darüber, wie und warum das genau passiert, könnte man stundenlang medizinisch hochkompetent referieren. Aber daran, dass man das einfach annehmen und akzeptieren muss, ändert das natürlich nichts. Und es ist gut und sinnvoll, sich ab und zu seine eigenen Grenzen vor Augen zu führen: Egal ob es alte Filmaufnahmen von Nasa-Astronauten in der G-Force-Zentrifuge sind, die keinen geraden Buchstaben mehr hinkriegen – oder Berichte über "Boxschach", bei denen die Sportler in den Schachphasen zwischen den Boxrunden auch ohne Treffer mit Konzentrations- und Fokusproblemen kämpfen. "Versuch mal, im letzten Viertel eines Marathons, den du voll läufst, Pace, Performance und Zielzeit zu berechnen", lacht Fritz; "es wird, höflich gesagt, nicht ganz einfach sein."

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Doch es muss gar nicht der Wettkampf sein: Mir genügt mitunter schon ein relativ einfaches Trainingssetting, um intellektuell "auszusteigen". Etwa das eines Tempowechsellaufes. Oder ein Intervalltraining: zehn- oder zwölfmal die Rampe zum Radweg unter der Reichsbrücke Vollgas 150 Meter rauf und als "Trabpause" gemütlich wieder runter. Einfacher und schlichter geht eigentlich nicht. Man muss nur zählen. Aber irgendwann kann der Augenblick kommen, in dem man sich fragt, in welchem Segment man jetzt eigentlich ist. Sieben? Neun? 34?

Das Problem ist banal – und marginal. Und auch superleicht zu lösen: mit Schummelzetteln etwa oder einer programmierbaren Uhr.

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Vergangene Woche war genau das der Fall. Auf dem Plan stand "Tempowechsel": Zwei Kilometer einlaufen, zwei zügig, einer schnell. Dann wieder zwei lockere und zwei zügige Kilometer – und noch ein schneller. Zum Schluss zwei Kilometer auslaufen: This is not Rocketscience. Aber ich kenne mich. Und auch wenn ich dann beim Lauf selbst nicht durcheinanderkam, war ich froh, mir die Einheiten vorher aufgeschrieben zu haben: auf den Handrücken. Deppensicher ist deppensicher.

"Ach, du machst das auch so?", fragte dann, auf dem Weg zur U-Bahn, eine Zufallslaufbekanntschaft – und war sichtlich erleichtert. "Ich komme mir dabei ja immer wie der größte Depp vor." Wir lachten beide.

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Daheim postete ich das Bild in eine Facebook-Laufgruppe. Und stellte die laufintellektuelle Gretchenfrage.

Die Antworten kamen zuhauf: Etwa ein Viertel beschriftet sich demnach selbst oder steckt einen Zettel ein – die anderen programmieren ihre Laufuhren. Wobei es beim Schummelzettelviertel etliche gab, die die Gelegenheit nutzten zu fragen, wie das mit dem Programmieren der eigenen Uhr denn funktioniere. Ob dieses oder jenes Modell dieses oder jenes Herstellers … und so weiter.

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Spannend. Schließlich ist genau dieses Feature – also die Möglichkeit, komplexe Trainingsabläufe der Uhr (oder der App) vorher beizubringen, und dann, unterwegs, lediglich den Anweisungen des Gerätes zu folgen, mittlerweile ein Standardfeature de facto aller Laufuhren. Auch der billigen. Dass da allem Anschein nach viele Leute mit wirklich teuren Geräten unterwegs sind, aber keine Ahnung haben, was die Dinger können (oder wie sie die Funktionen nutzen könnten), ist zwar keine neue Erkenntnis – aber doch jedes Mal faszinierend. Das SUV-Syndrom: Man kauft einen Formel-1-Boliden – und ist damit ausschließlich in der City auf Parkplatzsuche.

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Ich selbst verwende die Trainingsprogrammfunktion auch nicht. Aber aus einem ganz anderen Grund: In der Stadt kann und will ich supergenaue Zeit- oder Streckenvorgaben nicht immer einhalten. So sind die "zwei Kilometer Einlaufen" auf meiner Standardroute zum Donaukanal meist ein paar hundert Meter vor dem Ringturm abgeschlossen. Danach kommen einige große Kreuzungen. Für mein Training sind 200 Meter mehr oder diese 20 Sekunden Warten komplett irrelevant – aber die Uhr richtet sich eben weder nach Topografie noch nach Ampelphasen.

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Ganz nebenbei: Dass die hochkomplexen Laufcomputer sich nicht nach Umständen und Befindlichkeiten, sondern an Zahlen orientieren, ist im Wettkampf gut und wünschenswert. Im Training kann diese Zahlenfixiertheit – und der Glaube an sie und sonst nichts – aber mitunter ein Problem werden. Dass etwa Puls- und Herzschlagdaten nichts darüber aussagen, ob ich ausgeschlafen oder ausgebrannt bin, ob ich glücklich, verzweifelt, hungrig oder satt bin, ist eigentlich klar. Dass Tempo- oder Paceangaben hübsche Zahlen sind, aber nicht verraten, ob es windig, regnerisch oder eisglatt war oder ob es leicht bergauf oder bergab ging, ebenso. Dennoch klammern sich viele Läuferinnen und Läufer dogmatisch an diese Ziffern und Zahlen.

"Genau aus diesem Grund verwende ich in solchen Plänen keine Pulszahlen, sondern subjektive Werte", erklärt Harald Fritz, wieso bei mir da "flott" und zügig" oder "RPE 7" (siehe die Tabelle im Bild) statt beispielsweise HF165 steht: "Jedes Training ist anders – weil du anders drauf bist. Davon hat die Uhr ja keine Ahnung."

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Freilich: An der Grundfrage des Sich-Dinge-Merkens oder dem Staunen darüber, wie rasch und leicht man Fähigkeiten, die sich schon Vorschulkinder erworben haben, wieder ablegt, wenn die Umstände sich marginal ändern, ändert das nichts.

Aber es tut gut zu wissen, dass man nicht allein ist:

Eine österreichische Elitesportlerin, mehrfache Staatsmeisterin in etlichen Disziplinen, erzählt etwa, dass sie so einmal eine "Goldene" bei Staatsmeisterschaften versemmelte: In Führung liegend war die "Laktatparty" in Kopf und Körper so wild, dass sie sich beim Rundenzählen vertat – und weil der Mann an der "Letzte-Runde-Glocke" patzte (was hin und wieder vorkam), ging sie eine Runde zu früh vom Gas: In einem dichten Spitzenfeld holt man das nie wieder auf.

Blöd – aber sehr menschlich. Und wahrlich keine Frage der Intelligenz: "Es geht allen so." (Thomas Rottenberg, 31.1.2018)

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