Licht in die Dunkelheit der Netzwerke zu bringen, die das Leben bestimmen, ist der Kern der langjährigen Forschungsarbeit des britischen Physikers Geoffrey West. "Hinter dem komplexen Chaos, das uns umgibt, scheint eine eindrucksvolle Einfachheit zu stecken."

Foto: Santa Fe Institute

Wien – Ordnung in das Chaos unserer Welt zu bringen, feinste Verknüpfungen in den Netzwerken des Lebens offenzulegen und dabei trotzdem nicht den Blick auf das große Ganze zu verlieren – das ist das Ziel der Komplexitätsforschung. Dabei werden Fachgrenzen gesprengt und riesige Datenmengen durchkämmt auf der Suche nach Mustern und Formeln, die unsere Welt steuern. Ein Urgestein der Komplexitätsforschung ist der britische Physiker Geoffrey West. Er wurde bekannt durch seine Untersuchungen zu den universellen Gesetzen des Stoffwechsels von biologischen und sozialen Systemen. Der ehemalige Leiter des Santa Fe Institute im US-Bundesstaat New Mexico, wo er bis heute forscht, wurde 2006 vom "Time Magazine" zu einer der 100 einflussreichsten Personen der Welt gekürt. Heute, Mittwoch, ist er bei einer Tagung am Complexity Science Hub in Wien zu Gast.

STANDARD: In Ihrer Arbeit haben Sie physikalische Gesetze auf Biologie, Wirtschaft und Politik angewandt. Haben Physiker eine andere Sicht auf die Welt?

West: Den Physiker treibt die Suche nach Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten an, das Streben, Mechanismen zu verstehen. Das impliziert, dass man ohne ein tieferes Verständnis keine Probleme lösen und Fortschritte machen kann. Das gilt besonders für die Welt der komplexen Systeme, die sich entwickeln und an äußere Veränderungen anpassen. Zudem müssen Physiker ihre Theorien unter Beweis stellen. Politiker hingegen machen Statements, sie verkünden: So ist es und nicht anders, ohne richtige Erklärungen. In diesem Sinn ist die Physik eine andere Linse, durch die die Welt betrachtet werden kann. Ich sage nicht, dass das die einzig richtige Linse ist, aber zumindest eine zusätzliche.

STANDARD:Durch Ihre Linse betrachtet, folgen Zellen ähnlichen Gesetzmäßigkeiten wie Städte. Was haben sie gemeinsam?

West: Auf der elementarsten Ebene kann nichts wachsen oder sich verändern, wenn es keine Energiezufuhr gibt, keine Zelle, kein Lebewesen. Das Gleiche gilt für Städte und andere soziale Organisationen wie Firmen – sie brauchen ständig Energie, auch in Form von Geld und Ideen, Innovationen und Kreativität. Es gibt viele subtile Verbindungen zwischen Geld, Information und Energie, nichtsdestotrotz kann man alles auf Energie reduzieren. Und das ist eine sehr physikalische Sicht. Eine der Herausforderungen ist, alle Energie in ein System einzubeziehen, sowohl jene, die für die Erhaltung eines Systems notwendig ist, als auch jene, die man braucht, um ein System zu vergrößern, sei es in Bezug auf seine Größe oder auf seinen Wohlstand.

STANDARD: Und bei den Verhältnissen zwischen Systemgröße und Energieaufwand sind Sie auf erstaunliche Regelmäßigkeiten gestoßen?

West: In der Arbeit, in der ich mich ursprünglich mit der Thematik beschäftigt habe, ging es um diese Regelmäßigkeiten in der Biologie. Es gibt die Vorstellung, dass jeder Organismus, jeder Zelltyp, jedes Genom aufgrund von natürlicher Selektion und Anpassung seine eigene evolutionäre Geschichte hat, einzigartig ist. Die große Überraschung ist, dass man, wenn man messbare Charakteristika eines Organismus vergleicht, außergewöhnliche Regelmäßigkeiten findet. Konkret: Wenn man die Größe eines Säugetiers verdoppelt, hat man die doppelte Zahl an Zellen. Man könnte annehmen, dass sie doppelt so viel Energie brauchen, man spricht hier von Stoffwechselrate. Doch das ist nicht der Fall. Ein Tier, das doppelt so groß wie ein anderes ist, braucht nicht doppelt so viel Futter, sondern grob gesagt 75 Prozent mehr. Es gibt also sogenannte Skaleneffekte: Je größer man ist, desto weniger Energie braucht jedes Gramm Gewebe. Das beeinflusst molekulare Abläufe bis hin zu Herzschlagrate und Lebenserwartung.

STANDARD: Wie lassen sich diese Regelmäßigkeiten erklären?

West: Die Erklärung dafür liefert die Mathematik und die Physik der zahlreichen Netzwerke, die das Leben aufrechterhalten – Kreislauf, Atemwege, neuronales Netzwerk etc. Sie alle haben universelle Eigenschaften. Sie verbrauchen im Normalfall die minimale Energie bezogen auf die Größe – das trifft auf alle Tiere und Pflanzen zu. Man nimmt an, dass es evolutionär von Vorteil war, da so die Energie, die für Reproduktion frei ist, maximiert werden kann.

STANDARD: Lassen sich diese Gesetze auch auf künstlich geschaffene Städte übertragen?

West: Auch Städte sind Netzwerksysteme mit universellen Eigenschaften. Allerdings gibt es hier zwei Arten von Systemen: Eines ist analog zu jenen in der Biologie, das betrifft die Infrastruktur, also etwa die Zahl der Straßen, die Kanalisation, Gebäude. Wenn man die Bevölkerung einer Stadt verdoppelt, braucht man rund 85 Prozent mehr Infrastruktur. Die Ersparnis ist also geringer als in der Biologie. Es gibt aber wesentliche Bereiche von Städten, in denen es sich vollkommen anders verhält: Wenn man die sozioökonomische Matrix betrachtet, etwa Gehälter, Kriminalitätsraten oder die Anzahl an Patenten, sieht man, dass die Städte sich noch immer nach regelmäßigen Kriterien verändern, aber unter anderen Vorzeichen.

Also je größer die Stadt im Vergleich zu einer kleineren, desto höher die Löhne, desto mehr Ideen und desto mehr Kriminalität. Das gilt für Städte weltweit im selben Ausmaß, unabhängig von Geschichte, Geografie und Kultur einer Stadt. Diese außerordentliche Universalität liegt darin begründet, dass soziale Interaktionen im Grunde überall auf der Welt gleich ablaufen. Hinter dem komplexen Chaos, das uns umgibt, scheint eine eindrucksvolle Einfachheit zu stecken.

STANDARD: Was bedeuten diese offenbar unüberwindbaren Muster?

West: Man muss immer bedenken, dass diese Modelle sehr grob gestrickt sind. Es gibt mindestens zehn bis 20 Prozent, die von den lokalen Gegebenheiten abhängig sind. Für langfristige Entscheidungen, etwa in der Stadtplanung, ist es wichtig, die inhärenten Dynamiken eines Systems zu kennen. Das Unverständnis dieser Mechanismen hat zu weitreichenden Problemen in der urbanen Entwicklung und in politischen Systemen geführt.

STANDARD: Was heißt das für zukünftige Entwicklungen?

West: In der Biologie führen die Skaleneffekte dazu, dass man schneller wächst, wenn man jung ist, aber dann stoppt, weil man umso weniger braucht, je größer man ist. Bei sozialen Systemen ist das Gegenteil der Fall. Das Paradigma, nach dem die Gesellschaft in den vergangenen 200 Jahren funktioniert hat, war grenzenloses Wachstum. Das hat eine fatale Konsequenz: Wenn man alles durchrechnet, kann sich das System nicht erhalten, es muss kollabieren. Die einzige Möglichkeit ist, sich mit neuen Innovationen kontinuierlich neu zu erfinden – das hat bisher funktioniert. Aber die Theorie sagt, dass diese Zyklen immer schneller und schneller stattfinden, bedeutende Innovationen wie zuletzt die Digitalisierung in immer schnellerem Tempo greifen müssen. Das ist nicht nachhaltig.

STANDARD: Was kann man dagegen tun?

West: Wenn wir davon ausgehen, dass alles in unseren sozialen Interaktionen begründet ist, müssen wir etwas daran ändern, wie wir Gesellschaft strukturieren. Können wir unsere dynamischen Lebensstandards ohne diese Art von Wachstum weiterführen? Ich glaube, diese Frage sollte das Zentrum einer internationalen Roadmap sein, denn es ist nicht mehr viel Zeit übrig auf dem Level, auf dem wir uns bereits befinden. Ich hoffe, ich täusche mich! (Karin Krichmayr, 31.1.2018)