Peter Terrin: "Der Wachmann"

Gebundene Ausgabe, 256 Seiten, € 20,60, Liebeskind 2018 (Original: "De Bewaker", 2009)

Daryl Gregory: "Die erstaunliche Familie Telemachus"

Gebundene Ausgabe, 544 Seiten, € 24,70, Eichborn 2018 (Original: "Spoonbenders", 2017)

Es lohnt sich doch immer wieder, zwischendurch mal einen Blick auf die Programme von Verlagen zu werfen, die nicht auf Phantastik spezialisiert sind. Auch dort können Genre-Fans die eine oder andere Perle finden – wie diese beiden Titel, die in der Rundschau bereits anhand der Originalausgabe bzw. einer englischen Übersetzung besprochen wurden.

Bei Daryl Gregory liegt das noch gar nicht lange zurück: Sein jüngster Roman "Spoonbenders" wurde im September vorgestellt und fand sich im Jänner im Jahres-Best-of wieder. Darum will ich gar nicht mehr viele Worte darüber verlieren, Details siehe Link. Wie sich die Familienchronik des Telemachus-Clans mit seinen – vermeintlichen oder vielleicht doch echten – übersinnlichen Fähigkeiten zu einem gleichermaßen humorvollen wie rührenden und twistreichen Puzzle verknüpft, ist jedenfalls ein Leseerlebnis. Schön, dass das so flott seinen Weg ins Deutsche gefunden hat.

Je später die Veröffentlichung ...

Umso verblüffender dafür, wie lange es bei Peter Terrins "Der Wachmann" gedauert hat. Der 2014er Roman "Monte Carlo" des belgischen Autors ist 2016 ins Deutsche übersetzt worden – um "De Bewaker" von 2009 hingegen, seinerzeit mit dem Literaturpreis der Europäischen Union ausgezeichnet, hat sich bislang niemand gekümmert. Da war ausgerechnet der tendenziell übersetzungsungeile englischsprachige Markt um Jahre schneller (siehe die Rezension zu "The Guard").

Genau genommen dreht sich Terrins Roman um zwei Wachmänner: Ich-Erzähler Michel und dessen Kollegen Harry. Die sitzen in der Tiefgarage, die sie bewachen sollen, de facto in Isolationshaft – auch noch Monate, nachdem die Bewohner des dazugehörigen Wohnkomplexes aus unbekanntem Grund geflüchtet sind. Da hocken unsere zwei Antihelden nun und schmoren im eigenen Saft, die Paranoia wächst – skurrilerweise aber gar nicht so sehr wegen der Vermutung, dass da draußen ein Atomkrieg stattgefunden haben könnte, sondern weil ihr Alltag mit all seinen kleinen Ritualen langsam aus den Fugen gerät.

Terrins Erzählung ist vieles: surreales Kammerspiel, Allegorie, dystopischer Gesellschaftsentwurf, die Interpretationen sind offen. Und sogar mehr noch als Gregorys "Familie Telemachus" wirft uns "Der Wachmann" in ein Wechselbad der Gefühle zwischen Lachen, Rätseln und Schaudern. Empfehlung!

So viel zum Nachgeholten und Wieder-in-Erinnerung-Gerufenen; auf den nächsten Seiten geht es mit echten Neuvorstellungen weiter.

Fotos: Liebeskind/Eichborn

Andy Weir: "Artemis"

Klappenbroschur, 432 Seiten, € 15,50, Heyne 2018 (Original: "Artemis", 2017)

Hier ist nun also das Ding, das die unmöglichste Aufgabe bewältigen sollte, der sich ein Buch seit langer Zeit stellen musste: den Mega-Erfolg von "Der Marsianer" zu wiederholen, wenn nicht gar zu übertreffen. Schon unter normalen Umständen hat ein Nachfolgewerk ja mit dem Widerspruch zu ringen, dass alle gerne etwas ganz Neues hätten und gleichzeitig dasselbe wie beim ersten Mal; 's war doch so schön.

Und von normalen Umständen konnte bei Andy Weir ohnehin nie die Rede sein. Man stelle sich vor: Da schreibt jemand seinen ersten Roman, publiziert ihn selbst, findet immer mehr Leser und nachträglich einen Verlag, landet einen weltweiten Mega-Bestseller – und der wird dann auch noch umgehend als Hollywood-Blockbuster verfilmt. Mal ehrlich: Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit? Und wie hoch ist die, dass es sich wiederholt?

Tut es natürlich nicht, darum hier zwei Tipps vorab: 1) Am besten "Artemis" als Werk eines neuen Autors behandeln und nicht ständig Vergleiche zum "Marsianer" ziehen. So viel war schon vorher klar, ich ergänze das aber nach der Lektüre noch mit: 2) Weiterlesen. In der zweiten Hälfte wird der Roman besser.

Schauplatz Mond

Vom Mars wechseln wir diesmal zum Mond. Dort befindet sich im späten 21. Jahrhundert unweit der Landestelle von Apollo 11 die Stadt Artemis mit ihrer multikulturellen Bevölkerung. 2.000 Menschen leben hier in fünf Kugeln aus Aluminium und Gestein, die zur Hälfte im Boden versenkt sind. Insgesamt sieht der Komplex ein bisschen wie das Brüsseler Atomium aus; Karte und Lageplan sind im Buch enthalten. Den Sauerstoff liefert eine nahegelegene Alu-Fabrik als Nebenprodukt – alle anderen Ressourcen sind nicht so verschwenderisch verfügbar und daher entsprechend teuer.

Besonders luxuriöse oder auch verbotene Güter schmuggelt die Ich-Erzählerin Jazz Bashara ein, eine Saudi, die seit ihrer Kindheit in Artemis lebt. Offiziell ist sie eine Kurierin, und wir lernen sie kennen, als sie gerade durch die Aufnahmeprüfung für die Gilde rasselt, die das Monopol auf Außeneinsätze und Touristenführungen innehat. Wieder einmal ist damit ihr Traum vom großen Geld ein Stück in die Ferne gerückt. Jazz' Werdegang können wir über einen jahrelangen E-Mail-Wechsel mit einem Brieffreund auf der Erde nachverfolgen. Dieses Element wirkt zwar etwas willkürlich, liefert aber immerhin eine hübsche Erklärung ab, was Jazz antreibt. Schon als Kind bekannte sie nämlich: Ich will keinen Job. Wenn ich groß bin, will ich reich sein.

Da aus dem Gilden-Job nichts wurde und die Schmuggeleinkünfte sich auch in Grenzen halten, kommt Jazz ein unmoralisches Angebot des Milliardärs Trond Landvik gerade recht: Der will die Aluminium-Fabrik übernehmen, und um die jetzigen Besitzer auszubooten, soll Jazz deren Infrastruktur sabotieren. Selbstverständlich läuft dann nichts wie geplant, und ehe sich's Jazz versieht, ist sie mit einem Doppelmord konfrontiert und vor dem Killer auf der Flucht. Als dann auch noch das Schicksal der ganzen Stadt auf dem Spiel steht, könnte aus der kratzbürstigen und moralisch flexiblen Protagonistin tatsächlich noch eine echte Heldin werden.

(Try to) Get into the Groove

Die Sprache des Romans ist – keine wirkliche Überraschung nach dem "Marsianer" – flapsig, die Sätze sind in der Regel auffallend kurz. Letzteres ist für mich immer etwas gewöhnungsbedürftig: so einfach, dass es schon wieder schwierig wird, in den Flow zu kommen. Speziell in der ersten Romanhälfte ist es aber etwas anderes, das den Fluss stört. Einmal mehr hat sich Andy Weir, eindeutig ein Vertreter der Hard SF, zu sämtlichen Weltraum- und Technologiethemen den Wolf recherchiert. Und dieses Wissen will dann auch eingebaut sein. Zeitweise kommt man sich in "Artemis" vor wie auf einem YouTube-Kanal, in dem einem Hipster-Nerd-Hybride betont locker demonstrieren, was für eine endgeile Sache Wissenschaft ist, und dabei eine super Zeit haben.

Die meisten Menschen wissen es nicht, aber auf dem Mond gibt es eine geradezu lächerlich große Menge an Sauerstoff. Man braucht nur teuflisch viel Energie, um an ihn heranzukommen. Von solchen Sätzen wimmelt es hier nur so. Das Problem: Sie sind als allgemeingültige Fakten stets im Präsens gehalten, stehen aber mitten in einem Text, der im Imperfekt erzählt wird. Der ständige Tempuswechsel – sogar während Action-Sequenzen – ist auf Dauer irritierend. In der zweiten Romanhälfte bessert sich das zum Glück, da sind Weir die Fun Facts offenbar schon weitgehend ausgegangen. Nun wird "Artemis" zu einer waschechten Caper Story. Die beinhaltet zwar einen dicken Denkfehler (natürlich nicht auf der Technik-Seite, Weirs Spezialgebiet), aber sei's drum. Hauptsache unterhaltsam.

Ende gut, alles gut

Weirs Vorliebe fürs Physikalisch-Technologische führt natürlich auch wieder zu zahlreichen prozeduralen Passagen vulgo angewandtem Bastelspaß – etwa wenn Jazz ihre kreativen Sabotageakte durchführt. Interessanterweise ist neben dieser erwartbaren Stärke aber auch die Figurenzeichnung recht gelungen. Auf dezent-indirekte Weise versteht es Weir, uns das komplizierte (bei Jazz ist alles Menschliche kompliziert) Wechselspiel mit ihrem Vater, mit beruflichen Rivalen, dem Ex-Freund und dem möglichen Neuen oder mit der Administration von Artemis nahezubringen, ohne auf Küchenpsychologie zurückgreifen zu müssen. Zu lesen sind die zwischenmenschlichen Nöte in der Regel recht vergnüglich – etwa wenn der liebenswert unbeholfene Ukrainer Svoboda ein wiederverwendbares Kondom entwickelt hat und Jazz hartnäckig für einen Produkttest gewinnen will.

Insgesamt: nicht übel, nicht überragend, tendenziell unauffällig. "Artemis" hat wie erwartet gezeigt, dass auch Andy Weir nur mit Wasser kocht. Bei wie viel Grad dieses unter den Bedingungen des Mondes zu sieden begänne, steht selbstverständlich auch drin.

Foto: Heyne

David Walton: "The Genius Plague"

Broschiert, 384 Seiten, Pyr 2017, Sprache: Englisch

In David Waltons jüngstem Roman "The Genius Plague" ärgert sich der Mykologe Paul Johns darüber, dass sich sein Fachgebiet an der Uni mit einer Untermieterrolle im Botanik-Institut begnügen muss. Immerhin bilden Pilze neben Pflanzen und Tieren ein eigenes, gleichwertiges Reich innerhalb des vielzelligen Lebens (und stehen den Tieren sogar näher als den Pflanzen).

Ein bisschen spiegelt die institutionelle Missachtung auch die Situation in der Phantastik wider, wo Pilze selten eine Hauptrolle gespielt haben. Immerhin: Im vergangenen Jahr machte Caitlín R. Kiernan in "Agents of Dreamland" einen Pilz zum Wegbereiter für die Rückkehr von Lovecrafts Großen Alten, ein paar Jahre zuvor hatte Mike Carey in "The Girl with All the Gifts" den berüchtigten "Zombie-Pilz" Ophiocordyceps unilateralis von Ameisen auf Menschen überspringen lassen. Von dem, was dann noch an Romanen übrig bleibt, dürfte ungefähr die Hälfte von Jeff Vandermeer stammen, der ja ein bekennender Fungus-Fan ist.

Zwei Brüder

David Walton, den wir über das Quantenwelt-Abenteuer "Superposition" kennen und schätzen gelernt haben, tritt nun an, um diese Lücke zu füllen. Er lässt besagten Paul Johns gerade von einer Forschungsexpedition im Amazonasgebiet zurückkehren, als Paul und seine Mitreisenden von einer Gruppe Soldaten überfallen werden – Paul kann dem Kugelhagel gerade noch entkommen. Dass die Soldaten ein seltsam synchronisiertes Verhalten an den Tag legen, ist das erste Anzeichen dafür, dass sich hier Seltsames tut. Weitere werden folgen – zuletzt eine Infektion, die Paul an den Rand des Todes bringt und ihn nach ihrem Abklingen verändert. Zum Besseren, so glaubt zumindest er.

Nach diesem Prolog blendet Walton aber um, denn Hauptfigur und Ich-Erzähler von "The Genius Plague" ist Pauls Bruder Neil. Der möchte in die Fußstapfen seines Vaters treten und als Kryptologe für die NSA arbeiten. Sein Patriotismus wirkt etwas naiv, passt aber zu Neils generell eher jungenhaftem Wesen. Er ist schusselig und sorgt mit diversen Missgeschicken für einige Situationskomik – zugleich ist er aber auch wie sein Bruder hochintelligent und stets in der Lage, in den ihm auferlegten Regeln ein Hintertürchen aufzuspüren. Das bringt ihn natürlich in Schwierigkeiten mit den Autoritäten und macht ihn zugleich zu einer unterhaltsamen Figur.

The Phantom Menace

Kaum hat Neil seine Arbeit bei der NSA aufgenommen, sieht sich die Behörde auch schon mit jeder Menge neuartiger Phänomene konfrontiert. In Südamerika kommen Indigene mit erstaunlichen sprachlichen und mathematischen Fähigkeiten aus dem Urwald gewandert. Einstmals verfeindete Guerilla-Gruppen verbünden sich und tauschen Botschaften aus, die in einer für Außenstehende vollkommen unverständlichen Indigenen-Sprache kodiert sind. In Brasilien wachsen Ressentiments gegen die USA, in einigen Ländern kommt es zu einem Putsch – und so bahnt sich ein Konflikt an, in den schließlich auch die USA hineingezogen werden.

Bereits zu Beginn des Romans beschreibt Walton, wie ein Regenwald-Pilz Menschen als neue Wirtskörper für sich entdeckt. Insofern rätseln nur die Romanfiguren über den Zusammenhang zwischen all diesen Phänomenen, wir Leser sind von Anfang an im Bilde. Spannend ist der Roman trotzdem, weil er anhand einer Eskalation aufgebaut ist – speziell im letzten Viertel werden wir uns langsam die Frage stellen müssen, ob die Menschheit gegen die Ausbreitung der Pilz-Vernetzten ("A fungus is kind of like the internet") überhaupt noch eine Chance hat.

David Walton, der hier sehr darauf bedacht ist, uns die Wunderwelt der Pilze mit allerlei Fun Facts (oder auch Horror Facts) näherzubringen, hat versucht, sein Gruselszenario streng auf naturwissenschaftlichem Niveau zu halten. Weshalb er auch immer wieder betont, dass es sich bei dem Pilz nicht um ein selbstständig denkendes Individuum handelt. Ganz so wie vom Autor gewünscht kommt das aber nicht rüber. Es ist zugegebenermaßen auch schwierig, etwas zu beschreiben, das de facto intelligent handelt, ohne aber Intelligenz in unserem Sinne aufzuweisen. Meistens landen Autoren letztlich doch bei irgendeinem lenkenden Geist. Dem geist- und ziellosen Wesen der Evolution am nächsten gekommen ist vielleicht Greg Egan in seinem Roman "Teranesia" von 1999. Waltons Roman liegt etwa auf halbem Weg zwischen "Teranesia" und den "Körperfressern".

Pageturner

Detektivisch geübte Leser werden im Verlauf des Romans immer wieder über verdächtig wirkende Kleinigkeiten stolpern, die man für Clues halten könnte – etwas, das noch zu einer ganz besonders raffinierten Wendung führen wird. Anscheinend ist Walton aber noch raffinierter ... denn all die "Clues", die ich stolz entdeckt habe, haben sich letztlich als falsche Fährten entpuppt. Walton lässt seinen Roman stattdessen ganz geradlinig auf der Spur eines Wissenschaftsthrillers weiterlaufen. Was letztlich aber auch ausreicht: "The Genius Plague" ist spannungsgeladen und flüssig geschrieben, ein klassischer Pageturner. Die Einteilung in kurze Kapitel verleitet beim Lesen unwillkürlich zum Gedanken "Eines geht noch, eines geht noch ..." – und ehe man sich's versieht, ist man auch schon durch.

Wem Walton damit – wie mir – Appetit auf weitere Pilzgerichte gemacht hat: Am Ende der Rundschau gibt es noch einen Nachschlag.

Foto: Pyr

Alastair Reynolds: "Rache"

Broschiert, 557 Seiten, € 11,30, Heyne 2018 (Original: "Revenger", 2016)

Mich deucht, hier ist alles ein bisschen anders ... Ist nicht der schlechteste Effekt, wenn einen dieses Gefühl beim Lesen eines Buchs beschleicht, dessen 08/15-Text auf der Rückseite die x-te Variante einer galaxisweiten Sternenföderation in der mittleren Zukunft verheißt. (Wäre nebenbei bemerkt nett, wenn die Autoren solcher Texte die betreffenden Bücher auch gelesen hätten.) Denn in Alastair Reynolds' jüngstem Werk ist vieles etwas anders als gewohnt.

Das beginnt schon bei Mazarile, der Welt, von der Ich-Erzählerin Fura stammt. Dort gehören neben Raumschiffen und Robotern auch Gendarmen und Vorträge in der Handelskammer zum Alltag. Man(n) trägt Hut und liest die Zeitung, die neuste Mode hängt im Schaufenster eines Geschäfts mit Ladenschild, es werden Papier und Tinte verwendet. Ein 50er-Jahre-Ambiente mit SF-Einschlag entfaltet sich vor unseren Augen, fast so wie in Jack McDevitts "Alex Benedict"-Romanen. Und dann wird mal eben ganz locker eine Bemerkung eingestreut, die andeutet, dass man sich an Millionen Jahre zurückliegende Ereignisse erinnert.

Die neue Welt

Verblüfft müssen wir erkennen, dass wir uns in einer sehr fernen Zukunft befinden ... aber immer noch im Sonnensystem. Nix "in den Weiten des Alls ausgebreitet und neue Planeten besiedelt", wie hinten am Buch steht. Es sind tausende Kunstwelten, die als Kongregation um die Alte Sonne kreisen; die Erde ist offenbar schon seit langer Zeit zerstört.

Habe ich tausende gesagt? Genau genommen sind es Millionen, doch der überwiegende Teil davon bleibt hinter Energieschirmen verborgen. Nur selten tut sich eine Öffnung in einer solchen Blase auf und ermöglicht den Menschen Zugang zu den eingeschlossenen Schätzen aus der Vergangenheit. Und die sind höchst begehrt, denn das technologische Level ist längst nicht mehr das, was es einmal war. Die aktuelle Zivilisation ist nur eine von vielen sogenannten Okkupationen, die sich im Lauf der Jahrmillionen ausgebreitet haben und wieder verschwunden sind. Reynolds entwirft also eine ähnlich geschichtete Fernzukunft wie einst in "Haus der Sonnen", nur diesmal eben auf solarer statt galaktischer Bühne.

Weitere Seltsamkeiten verstärken den Effekt subtiler Verfremdung. Verschiedene Alien-Spezies sind im Sonnensystem vertreten und spielen eine undurchsichtige Rolle. Eine, die vor langer Zeit mal präsent war, hat nur ihre Gebeine hinterlassen – und die riesigen Schädel, in denen offenbar immer noch eine Art Lebensfunke steckt, nutzen die Menschen als Kommunikations- und Navigationsinstrumente, als würden sie bei einer spiritistischen Sitzung in den Äther abtauchen. Abgerundet wird das Ganze mit einer Reihe sprachlicher Manierismen, zum Beispiel sagt man "Primaten" statt "Menschen" und nennt Luft "Lungengas".

Zur Handlung

Zu "Rache" wurde die Frage aufgeworfen, ob es sich um einen Young-Adult-Roman handeln würde. Das Alter der Hauptfiguren, das Verharren in einer einzigen Perspektive und der geschilderte Reifeprozess Furas könnten dafür sprechen. Dass es hier mitunter recht grausam zugeht und besagte Reifung mit einigen sehr zynischen Entscheidungen der Hauptfigur verbunden ist, steht dem allerdings entgegen. Der Plot ist schlicht und sei hier daher nur kurz angerissen:

Fura und ihre vorlaute Schwester Adrana sind 17 bzw. 18 Jahre alt. Als ihr Vater durch eine Fehlinvestition vor dem Bankrott steht, beschließen sie, in die Initiative zu gehen und selbst Geld zu beschaffen (eine gute Portion jugendliche Auflehnung spielt dabei auch eine Rolle). Sie schließen sich der Crew von Kapitän Pol Rackamore an, einem von vielen Schatzsuchern, die mit ihren Sonnenseglern aussichtsreiche Blasen anfliegen. Im dafür notwendigen Spezialteam sollen Fura und Adrana die Rolle von Knochenleserinnen einnehmen – ihre Aufgabe ist es, besagten Alien-Schädeln durch geistige Vernetzung wertvolle Infos zu entlocken.

Einfach spannend

Etwa ein Fünftel des Romans brauchen wir, um uns im exzentrischen Worldbuilding zurechtzufinden. Und kaum ist uns das gelungen, führt ein Überfall der Piratin Bosa Sennen zu ... überraschend umfassenden personellen Umschichtungen. Mehr sei hier nicht gesagt, nur kurz auf den Titel des Romans verwiesen. "Rache" ist deutlich dynamischer ausgefallen als Reynolds' vorangegangene und recht elegisch geratene "Poseidon's Children"-Trilogie. Die Erzählweise ist äußerst geradlinig – die innere und äußere Reise der Hauptfigur steckt dafür voller Umwege und Wendungen.

"Rache" lässt sich als Einzelroman lesen, für 2019 wurde aber bereits ein Sequel angekündigt. Immerhin hält dieses Universum noch viele ungelöste Rätsel bereit.

Foto: Heyne

James Tiptree Jr.: "Helligkeit fällt vom Himmel"

Gebundene Ausgabe, 511 Seiten, € 24,90, Septime 2018 (Original: "Brightness Falls from the Air", 1985)

Mit einem Gustostückerl endet die Werkausgabe zu James Tiptree Jr. im Septime-Verlag. "Brightness Falls from the Air" war der zweite und letzte Roman des Kurzgeschichten-Stars und ist bis dato noch nie ins Deutsche übersetzt worden. Und was haben Tiptree-Fans damit verpasst? Etwas durchaus Unerwartetes, weil es nämlich – bis auf das bewegende Ende – nur sehr wenig an die gewohnte Tiptree-Erzählweise erinnert. Das mich aber dennoch so gepackt hat, dass ich das Buch mit Vergnügen in einem Rutsch durchgelesen habe.

Wie der Roman im Verhältnis zum Gesamtwerk einzuschätzen ist, darüber gehen im englischsprachigen Raum die Meinungen auseinander. Auf jeden Fall ist er mit Absicht um einiges konventioneller gehalten als die stilistisch experimentellen Kurzgeschichten von James Tiptree Jr. aka Alice B. Sheldon. Mit Genie ausgestattet zu sein und sich dennoch an Genre-Konventionen zu halten, ist aber nicht unbedingt die schlechteste Kombination. Unwillkürlich muss ich dabei an den leider immer hypothetischer werdenden Fall denken, dass Björk statt einer Cyborg-Oper mit Seekuh-Ballett und dressierten Vulkanen zur Abwechslung mal wieder einen ins Ohr gehenden Popsong schreiben möchte. Ich bin mir sicher, der würde ein Hit.

Hilfe, die Touristen kommen!

Schauplatz von "Helligkeit fällt vom Himmel" ist der Planet Damiem am äußersten Rand der Milchstraße. Hier stehen nur noch zwei Sterne am Himmel – und einer davon ist der vor kurzem zur Nova gewordene Murdered Star. Wie wir erfahren, war es eine künstlich ausgelöste Explosion, eine Folge des letzten großen Krieges in der Galaxis. Auch Damiem selbst hat eine dunkle Vergangenheit: Die Ureinwohner des Planeten, die feengleichen Dameii, wurden massenhaft gefoltert und getötet, um ihnen ein kostbares Sekret zu entnehmen. Inzwischen stehen die Dameii unter dem Schutz der Föderation, überwacht von den einzigen drei menschlichen Bewohnern des Planeten: Administratorin Cory, ihrem Partner Kip und dem Xenomediziner Bram.

Weil jedoch die Novafront des ermordeten Sterns bald über Damiem hinwegziehen und für spektakuläre Lichtspiele sorgen wird, haben sich Touristen angekündigt. Ein gutes Dutzend wird vor dem Gästehaus abgesetzt, unter ihnen neben einigen Wissenschaftern auch ein kindlicher Prinz mit Ninja-Fähigkeiten, eine Adelige, deren Zwillingsschwester seit Jahren im Wachkoma liegt, und das Ensemble der "Absolutely Perfect Commune". Letzteres ist eine Art Reality-Show mit minderjährigen Protagonisten, die nichtsdestotrotz auch Pornos für die Unterhaltungsmaschinerie von Gridworld drehen, dem galaktischen Hollywood. Man darf also getrost von einer bunten Mischung sprechen.

Entspannte Lektüre

In "Helligkeit fällt vom Himmel" stehen eindeutig die Charaktere im Vordergrund. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Cory, Kip und Bram, manchmal wird aber auch für ein kurzes Kapitel auf die Perspektive eines Gasts geschwenkt – zum Beispiel die von Zannez, dem Produzenten der Reality-Show. Der hat offenbar die Gabe, die verborgenen Gefühle und Motivationen anderer Menschen zu erkennen, und so liefert er uns den ersten Vorgeschmack darauf, dass einige der Protagonisten nicht ganz das sein dürften, als das sie sich präsentieren.

Wir haben es also mit einem Plot ganz im Stil von Agatha Christie zu tun (auch wenn es kein Mord sein wird, der die Ereignisse ins Rollen bringt): Ein Grüppchen reicher und mehr oder weniger gebildeter "Westler" findet sich an einem exotischen Schauplatz zusammen und liefert ein Sittenbild ab, bis in der hermetisch abgeschlossenen Umgebung etwas Unerhörtes geschieht und einer nach dem anderen die Maske fallen lässt. Das ist ein wohlvertrautes Genre, in dem wir uns entsprechend gemütlich einrichten können – noch verstärkt durch die gutgelaunte Erzählweise, die eine entspannte Lektüre ermöglicht. Die längste Zeit würde man sich nicht wundern, wenn gleich ein galaktischer Hercule Poirot mit dem Shuttle einschwebt.

Das Drama des Lebens

Immer wieder hat mich auch das Gefühl beschlichen, einem Theaterstück beizuwohnen, so viele Bühneneffekte gibt es in "Helligkeit fällt vom Himmel": Da reißt sich jemand buchstäblich die Maske vom Gesicht, um seine wahre Identität zu enthüllen. Da wird ein Trigger-Wort, das eine bestimmte Reaktion auslösen soll, wiederholt und mit steigender Dringlichkeit in einem immer irrer werdenden Monolog eingebaut. Und da wimmelt es nur so von überbordenden Gefühlen ("Oh, Liebling, Liebling!"). Die Bühnentechnik untermalt die Handlung mit Blitz und Donner in Form der Novafront, deren Näherrücken und Anschwellen parallel zur Eskalation des Plots verläuft. Und einen Spezialeffekt gibt's obendrauf in Form eines Zeitgestöbers – eine Nebenwirkung des Strahlenschauers ist es nämlich, dass kurzfristig die Zeit "zurückgespult" werden kann.

Es ist wie gesagt nicht das Tiptree-typischste Werk. Nur einer der vielen Subplots verbindet in gewohnter Weise die Sehnsucht nach Schönheit mit der Sehnsucht nach Tod. Im Schlusskapitel wird dieser zuvor etwas untergegangene Aspekt noch einmal stärker betont. Und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Autorin – damals dem Tod nicht mehr fern – darin über sich selbst spricht, wenn sie eine ihrer Figuren sagen lässt: Ach, wenn ich ihnen doch nur sagen könnte – sie sehen nur diesen verfallenden Körper, sie sehen nicht, dass ich darin sitze wie ein Vogel in einem alten Baum. Wenn der Baum stirbt, werde ich davonschweben.

Foto: Septime

Fran Wilde: "Stadt aus Wind und Knochen"

Broschiert, 394 Seiten, € 12,40, Knaur 2017 (Original: "Updraft", 2016)

Nur sehr selten kommt einem der Fall unter, dass ein deutscher Titel das Wesen eines Buchs besser wiedergibt als der originale. "Stadt aus Wind und Knochen" benennt die beiden Komponenten, die das geradezu sinnliche Erleben des Romans ausmachen, der im Original schlicht "Updraft" heißt. Und den ich klar empfehlen kann.

Wind und Knochen verbinden sich hier zu einem der bizarreren Fantasy-Settings der vergangenen Jahre. Man merkt, dass US-Autorin Fran Wilde China Mièville gelesen und Gefallen an ihm gefunden hat. Sie selbst hat zunächst Gedichte und später Fantasy- und SF-Kurzgeschichten veröffentlicht. "Updraft" war ihr erster Roman und wurde mittlerweile um zwei Nachfolger aus derselben Welt ergänzt, kann dankenswerterweise aber auch als Einzelwerk gelesen werden.

Fantastischer Hintergrund

Vor langer Zeit ist irgendetwas geschehen, das die Menschen vom (Erd?)Boden vertrieben hat. Zuflucht fanden sie in gigantischen knöchernen Türmen, die aus den Wolken ragen und immer noch weiterwachsen. Die Menschen leben in Kammern und Alkoven des Gebeins, die durch das anhaltende Wachstum allerdings langsam zuwuchern und die Bewohner dadurch immer höher hinaufdrängen. Fortwährend knarren und stöhnen die Knochen, manchmal "brüllen" sie sogar – es ist eine mit jeder Faser spürbar organische Umgebung, die hier als Lebensgrundlage dient. Bis auf wenige Reste aus der Vergangenheit stehen nur noch Materialien zur Verfügung, die von den Türmen selbst oder von deren tierischen und pflanzlichen Bewohnern stammen.

Das zweite Element ist die Luft, ein trennendes und verbindendes zugleich: Dann hörte ich das schnappende Geräusch von Seide und Streben, das Geräusch eines Menschen, der in den Wirbelschacht sprang. Das war wunderbar: Das scharfe Geräusch, das Flügel im Wind machten; das Lied, das ein Körper sang, wenn er die Luft durchschnitt. Mit ausgeklügelt konstruierten Flügeln schwirren die Menschen von Turm zu Turm – zugegeben, Vergleichbares gab es in der Phantastik schon oft, denken wir etwa an George R. R. Martins und Lisa Tuttles "Sturm über Windhaven" oder Jay Amorys "Die Welt in den Wolken". Aber so beherzt wie Fran Wilde hat sich noch kaum jemand ins tosende Spiel der Luftströmungen gestürzt.

Erkenne deine Welt

Hauptfigur des Romans ist Kirit Densira; Letzteres ist der Name des Turms, in dem sie aufgewachsen ist. Kirit steht kurz vor dem Erwachsenwerden und bereitet sich auf die entscheidende Flugprüfung vor, als etwas Unerwartetes geschieht: Die größte Gefahr zwischen den Türmen sind die sogenannten Himmelsschlünde. Die dürfen wir uns offenbar ungefähr wie die unsichtbaren Riesenkalmare aus der TV-Doku "The Future Is Wild" vorstellen, nur eben in fliegender Variante. Doch als eines dieser Monster Kirit attackiert, gelingt es ihr, es mit einem markerschütternden Schrei in die Flucht zu schlagen – eine akustische Waffe, über die eigentlich nur die Sänger verfügen, die gleichermaßen verehrte wie gefürchtete und in ihren Motiven schwer durchschaubare Kontrollinstanz des Turm-Konglomerats. Von da an steht fest, dass Kirits Lebensweg nicht so verlaufen wird, wie sie sich das ausgemalt hat.

Wie schon vorhin bei Reynolds' "Rache" haben wir es mit einer Mischform aus Young-Adult- und Erwachsenenroman zu tun – oder besser gesagt vielleicht mit einer YA-Geschichte auf gehobenem Niveau. Im Kern dreht sie sich um eine junge Hauptfigur, die lernen muss, sich in ihrer Welt zurechtzufinden (ganz so wie wir Leser in einem Worldbuilding, das von Beginn weg eine Vielzahl neuer Eindrücke ungefiltert über uns hereinbrechen lässt).

Dieses Grundmotiv taucht in vielerlei Gestalt immer wieder auf: Etwa wenn Kirit bei der Flugprüfung erkennt, dass es in ihrer Gesellschaft nicht immer so fair zugeht, wie sie naiverweise gedacht hat. Wenn sie die Fähigkeit der Echolokation im Fledermausstil erlernt. Oder wenn sie sich in der Spire – Zentrum des Turm-Konglomerats und Wohnstätte der Sänger – einlebt und dort mit einem komplexen Geflecht aus Geheimnissen, Ritualen, Pflichten und Loyalitäten konfrontiert wird.

Shades of Grey

Entgegen herkömmlicher YA-Phantastik gibt es hier aber keine Schwarz-Weiß-Zeichnung, sondern viele Grau- und Zwischentöne. Kirit ist weder unter- noch überprivilegiert aufgewachsen, sie hat sympathische Eigenschaften ebenso wie nervige. Auch die Gesellschaftsform der Türme kennt Licht und Dunkel. Es gelten strenge Regeln, die mit harten Strafen – durchaus auch Kollektivstrafen – durchgesetzt werden. Geächtet werden nicht nur Straftäter, sondern auch Menschen, "die Unglück bringen" ... zum Beispiel Kranke. Und wer den Anweisungen der Spire widerspricht, muss sich einer Herausforderung stellen – die Entscheidung fällt in einem fliegenden Messerkampf. Die Sänger freilich sind mit Blick auf die chaotische Vergangenheit überzeugt davon, dass nur dieses rigide System Frieden und Fortbestand sichert.

Nach und nach beginnt Kirit die Funktionsweise ihrer Welt zu verstehen – nun gilt es, sich darüber klarzuwerden, wie sie damit umgehen soll. Ist das jetzige System alternativlos? Oder hat ihr bester Freund und "Beinahe-Bruder" Nat recht, wenn er sagt: "Vielleicht müssen manche Gesetze ja gebrochen werden"? Wir dürfen auf ihre Entscheidung gespannt sein.

Foto: Knaur

Angus McIntyre: "The Warrior Within"

Broschiert, 176 Seiten, Tor 2018, Sprache: Englisch

In seinem Romandebüt erzählt der britische Autor Angus McIntyre die alte Geschichte vom kleinen Häuflein Aufrechter, die ihre jeweiligen Fähigkeiten bündeln, um sich den Bösewichten entgegenzustemmen. Der besondere Twist: Diese Glorreichen Sieben (oder so) sitzen allesamt im Kopf der Hauptfigur, einer multiplen Persönlichkeit der etwas anderen Art.

Road to nowhere

Bei einem Film entscheidet oft die erste Szene, ob man gegenüber dem, das da noch kommen wird, vorfreudig oder "Oje ..." eingestimmt ist. Das ist bei Büchern nicht viel anders, und "The Warrior Within" beginnt mit einem wirklich schönen Bild: Auf einem Provinzplaneten bewegt sich eine Prozession mit einem rollenden Tempel an der Spitze eine Straße entlang, die sich schnurgerade um den ganzen Planeten zieht.

Sauber und unverwüstlich, ist sie das Erbe geheimnisvoller Erbauer – ebenso wie eine Reihe metallischer Städte, die an der Straße aufgereiht sind. Die jetzigen menschlichen Bewohner des Planeten ziehen mit ihren Tempeln von einer verlassenen Mega-Stadt zur anderen, zimmern in deren Windschatten ihre Bretterbudensiedlungen hin und versuchen ein bisschen von der alten Hochtechnologie abzukratzen, bis sie schließlich weiterziehen.

Die weltliche und spirituelle Macht liegt in den Händen der Adelsfamilie Muljaddy. Da die Konverter, mit denen sie die ungenießbaren Rohmaterialien des Planeten umwandeln, die einzig verlässliche Quelle für Nahrung und Trinkwasser sind, hängt alles am Tempel. Es ist eine relativ sanfte Diktatur, aber auch eine, gegen die es mangels Alternativen keine Auflehnung gibt: They simply accepted it, in the same way that they accepted that the sun was always visible at more or less the same place in the sky, that the winds blew more or less constantly, and that the world was divided into zones of light and dark. Diese schicksalsergebene Haltung spiegelt sich auch im ruhigen Ton wider, in dem "The Warrior Within" erzählt wird.

Wir sind viele

Hauptfigur Karsman hat in seinem Kaff die inoffizielle Rolle eines "Bürgermeisters" übernommen, kurz gesagt eines ausgleichenden Faktors ohne tatsächliche Macht. Niemand ahnt, dass er diese Rolle auch in seinem Inneren spielt, wo er einige Quasipersönlichkeiten – den Krieger, den Diplomaten, den Strategen und andere – auf Linie halten muss.

Es handelt sich dabei um zusätzliche neuronale Schaltkreise, die ihm einst installiert wurden: eigentlich eine Sparmaßnahme seiner damaligen Herrin, damit er verschiedene Aufgaben wahrnehmen kann (das ist Personalkürzung auf die ganz neue Art ...). Diese Schaltkreise haben annähernd die Komplexität eines eigenständigen Bewusstseins – und mitunter kann es Karsman sogar passieren, dass einer seiner Untermieter den Körper übernimmt und er irgendwann mit einer großen Gedächtnislücke aufwacht.

Der Plot rollt los

Eines Tages kommen drei Fremde – Söldner von einem anderen Planeten – in die Siedlung marschiert und kündigen unverblümt an, dass sie eine bestimmte Frau suchen, um sie zu töten. Nicht von ungefähr schießt Karsman da eine Szene aus einem alten Film durch den Kopf: Das Wüstenambiente, gewaltbereite Fremde, die in die Stadt kommen ... so weit haben wir es mit klassischen Western-Motiven zu tun. Stellen wir uns auf einen finalen Shootout ein.

Aber ganz so simpel legt's McIntyre dann doch nicht an. Der Provinzplanet ist nämlich in einen galaktischen Rahmen eingebettet, in dem Spiele auf einer höheren Ebene ablaufen. Hier haben Mächte – Künstliche Intelligenzen und posthumane Wesen – das Sagen, die nun auch auf Karsman und seine Welt Einfluss nehmen.

Als "mind-bendig" wird der Kurzroman beworben. Lange Zeit sieht es danach gar nicht so sehr aus, denn trotz multipler Persönlichkeiten scheinen weder Karsman noch wir Probleme zu haben, die richtige Perspektive auf die Realität zu wahren. Karsman hält seine parallelen Bewusstseine wie ein strenger Dirigent unter Kontrolle und alles scheint klar wie Kloßbrühe zu sein. Umso gebannter lauert man auf die Antwort der Frage, ob "The Warrior Within" doch noch seinen Philip-K.-Dick-Moment erleben wird ...

Sehr schönes Debüt!

Foto: Tor

Daniel Suarez: "Bios"

Broschiert, 542 Seiten, € 13,40, rororo 2017 (Original: "Change Agent", 2017)

Eins, zwei, drei, im Sauseschritt eilt die Zeit und der Techno-Thrillerant eilt mit. Ein Stückchen weiter in die Zukunft als in seinen vorangegangenen Romanen "Kill Decision" und "Control" hat sich Daniel Suarez diesmal begeben, nämlich in die Zeit nach der "vierten industriellen Revolution". Die eine biotechnologische war: Autokarosserien aus Chitin. Biokraftstoff aus modifizierten Escherichia-Coli-Bakterien. Tierleidfreies Fleisch und tierleidfreie Produkte aus nachhaltiger Zellkultur-Produktion. Biofabrikation statt maschineller Herstellung. Das Leben selbst wurde in den Dienst des menschlichen Willens gestellt.

Es geht aber noch exotischer – so gibt es bereits einige spektakuläre Erfolge mit künstlich hergestelltem Erbgut, Xenonukleinsäure oder kurz XNA genannt. Suarez' Welt des Jahres 2045 ist also ein bisschen weiter als die aus Marc Elsbergs Gentechnik-Thriller "Helix". In beiden Romanen spielt aber die gezielte Veränderung bzw. "Verbesserung" menschlicher Embryonen eine zentrale Rolle.

Gesichtsverlust

Der Kampf gegen die Herstellung von Designerbabys ist auch das, was Hauptfigur Kenneth Durand, einen leitenden Interpol-Beamten, am stärksten beschäftigt. Für seinen Job ist Kenneth extra ins innovationsfreundliche Singapur gezogen. Er gehört damit zur sogenannten "Bubble", der kleinen Minderheit mobiler Globalisierungsgewinner, die aus der Weltlage ihren Nutzen ziehen. Am anderen Ende des Spektrums stehen die Millionenheere der Klimaflüchtlinge.

Mit Frau und Kind hat sich Kenneth gemütlich eingerichtet. Sein Aufgabengebiet ist die Analyse von kriminellen Aktivitätsmustern, also ein klassischer Schreibtischjob – er ahnt noch nicht, dass er bald dazu gezwungen sein wird, sich zum Actionhelden zu mausern. Der Startschuss: Mitten auf der Straße wird ihm Gift injiziert, und als er nach fünf Wochen aus dem Koma erwacht, trägt er nicht nur das Gesicht, sondern auch die DNA seines Erzfeindes Marcus Demang Wyckes – Boss eines Kartells, das sich auf Gentechnik-Verbrechen spezialisiert hat. "Bios" ist also ein Thriller um Identitätsdiebstahl, der mitunter Erinnerungen an John Woos Film "Face/Off" weckt.

Auf der Flucht

Wer nach einem international gesuchten Verbrecher aussieht, sollte sich natürlich besser verstecken. Kenneth flieht also – was folgt, ist ein Trip voller Umwege durch halb Südostasien. Der macht weite Teile des Umfangs aus und wäre streng genommen unnötig, wenn sich der Autor entschieden hätte, dass Kenneth früher an Infos über das Hauptquartier des Schurken kommt. Aber Seiten wollen eben – durchaus spannend – gefüllt werden. Und immerhin lernen wir so mehr von der Welt 2045 kennen: von Migrationsströmen über neue Krypto-Währungen und Überwachungstechnologien bis zu bizarren Körpermodifikationsmoden im Underground.

Auf einem Großteil der Strecke wird Kenneth vom zwergenwüchsigen Gentechniker Bryan Frey begleitet: ein ungleiches Duo, das für einigen Witz sorgt. Ein ironisches Highlight angesichts Kenneths Lebensaufgabe ist es, wenn sich die beiden als Ehepaar ausgeben, um sich als "Kunden" bei einem Anbieter für Designerbabys einzuschleichen. Der Warenkatalog dort lässt jedenfalls keine Wünsche offen: "Für diejenigen, die hellere Haar- und Augenfarbe in Verbindung mit einem asiatischen Erscheinungsbild bevorzugen, hier unsere 'Blond-Chinesisch-Hybrid-Linie' von KRT75-Edits. Eine außergewöhnliche Kombination von hellem Teint und traditionellem Sino-Phänotyp."

Einen geheimnisvollen Gegenspieler gibt es natürlich auch. Diesen Part übernimmt Otto, Wyckes' massenmörderischer Vollstrecker, der bei allen, die ihm begegnen, gleichermaßen Angst wie Abscheu auslöst. Beides berechtigt, wie sich noch zeigen wird.

Auf die Leinwand damit!

Suarez hat bereits einen Filmdeal für seinen Roman abgeschlossen, was angesichts von Plot und Figurenkonstellation keineswegs verwundert: Das ist alles schon von Grund auf sehr hollywoodesk angelegt. Inklusive spektakulärer Stunts – etwa wenn Kenneth von einem Hochhaus auf den Rücken einer Flugdrohne springt oder sich selbst unter Wasser ins Ausland schmuggelt, eingezwängt in die lebensechte Nachbildung eines Hais. Vor spektakulären Einfällen ist Suarez ja noch nie zurückgeschreckt, erinnern wir uns bloß an die Antigravitations-Show von "Control". "Bios" ist übrigens besser.

Letztes Detail: Da der Roman ja so unverhohlen auf eine filmische Umsetzung schielt, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Suarez bei der einen oder anderen Figur auch schon fest die Besetzung im Auge hatte. Bryan Frey jedenfalls scheint sich stark als nächste Genre-Rolle für Peter Dinklage anzubieten. Nicht nur wegen Bryans Kleinwüchsigkeit, sondern auch wegen seiner recht ... pragmatischen Einstellung, was Ethik betrifft, ganz im Stil von Tyrion Lannister. Wir werden sehen!

Foto: rororo

Brooke Bolander: "The Only Harmless Great Thing"

Broschiert, 94 Seiten, Tor 2018, Sprache: Englisch

Kat grew up, as most American children did, associating elephants with the dangers of radiation. – Noch jemand hier, für den eine fixe Gedankenbrücke zwischen Elefanten und Radioaktivität besteht? Vermutlich nicht. Daraus können wir früh schließen, dass wir uns in einer Parallelwelt befinden, noch bevor US-Autorin Brooke Bolander die ersten Detailinfos rüberwachsen lässt, wie der historische Ablauf der Welt von "The Only Harmless Great Thing" von dem uns vertrauten abweicht.

Das Rohmaterial

Bolander hat für ihre Novelle zwei besonders unappetitliche Skandale aus dem frühen 20. Jahrhundert zusammen mit aktuellen Aspekten zu einem komplexen Puzzle verwoben. Einer der Skandale drehte sich um die sogenannten Radium Girls: Fabrikarbeiterinnen in den USA, die in den 1910er und 20er Jahren radioaktive Leuchtfarbe auf Uhren-Zifferblätter auftragen mussten und zwangsläufig an der Strahlenkrankheit dahinzusiechen begannen. Dass sie, vollkommen ahnungslos ob der Gefahr, ihre radiumgetränkten Pinsel mit der Zunge befeuchteten, mag man sich heute gar nicht mehr ausmalen ...

Die andere leider reale Geschichte ist die von Topsy, einer Asiatischen Elefantenkuh, die 1903 zum Gaudium des Publikums im Vergnügungspark von Coney Island "hingerichtet" wurde, nachdem sie einen Menschen getötet hatte. Ähnlich wie bei Rasputin setzte man dabei gleich auf mehrere Tötungsmethoden – die spektakulärste bildet zugleich den Titel eines Films, der auch auf YouTube zu finden ist: "Electrocuting an Elephant".

Was Bolander daraus macht

In der Realität lagen ein bis zwei Jahrzehnte zwischen diesen beiden Vorfällen. Bolander legt sie nun zusammen, indem sie "Radium Girl" Regan eine Elefantin als Hilfskraft anlernen lässt, die sich nun ihrerseits den Rüssel vergiften darf. In dieser Welt haben die Elefanten übrigens etwas mehr Intelligenz als in unserer. Es ist nicht nur eine Verständigung zwischen Mensch und Elefant in einer Art Gebärdensprache möglich, die grauen Riesen haben sogar eine eigene Sagentradition, die bis weit zu ihren Ahnen zurückreicht – durchaus vergleichbar mit den Verhältnissen in Stephen Baxters "Mammoth"-Trilogie.

In sehr kurzen Kapiteln rasch von einer Perspektive zur nächsten hüpfend, erzählt Bolander ihre Geschichte letztlich auf drei Zeitebenen. Eine davon ist die, auf der Regan – selbst bereits todkrank – auf Elefantenkuh Topsy, die spätere "Amokläuferin", trifft. Das ist die Vergangenheit; in der Gegenwart bemüht sich die Wissenschafterin Kat, ein System von Warnhinweisen vor Atommülllagern zu entwickeln, das auch viele Generationen in der Zukunft noch verstanden wird (der strahlende Scheiß ist schließlich ein wahres Langzeitproblem, und wer weiß, was für Kulturen auf die unsere folgen). Entsprechende Überlegungen gibt es in der Realität übrigens tatsächlich. Allerdings ist bei uns noch niemand auf Kats Idee gekommen: Elefanten rund um das Endlager ansiedeln und sie durch Genmanipulation giftgrün leuchten lassen ...

Bei der dritten handelt es sich um eine Meta-Ebene – eine Art Traumzeit der Elefanten, die wie ein Fluss Vergangenheit und ferne Zukunft (so lese ich zumindest den Prolog) miteinander verbindet. Bolander hat sich bemüht, in Elefantendenk abzutauchen (a hundred, hundred matriarchies ago als Zeitangabe, flat-faced pink squeakers als Bezeichnung für Menschen), und diesen Erzählstrang mit Liedern und Gedichten garniert. Sprachliche Experimente bleiben allerdings nicht auf die Elefanten-Perspektive beschränkt, davon ist die ganze Erzählung durchsetzt. Des Öfteren verheddert sich die Autorin dabei in gar zu kunstvollen Kodierungen. Der im Übermaß umgesetzte Gedanke "Das muss ich jetzt auf eine noch nie dagewesene Weise ausdrücken" ist bei Frühwerken aber weder überraschend noch verwerflich.

Die Moral von der Geschicht

"The Only Harmless Great Thing" ist eine Erzählung über den harten Kampf um die Wiederaneignung der Geschichte, die einem geraubt und von anderen umgedeutet wurde. In der Realität hat das bis zu einem gewissen Grad stattgefunden – zumindest führte das Martyrium der lange Zeit abgeschasselten Radium Girls in den USA zu nachträglichen Verbesserungen im Arbeitnehmerschutz. Bolander doppelt den Aspekt durch die Einbeziehung der Elefanten – immerhin soll auch ihnen schmackhaft gemacht werden, dass sie ihre Interessen einem größeren Gemeinwohl (sogar the greatest good überhaupt) unterordnen sollen. Sowohl Kat als auch Regan werden von der Autorin in einem tiefen moralischen Zwiespalt steckend beschrieben – schließlich wissen beide, welchen Preis die Tiere für ihre Leistungen bezahlen werden müssen. Leider hat Bolander solche Ambivalenz aber nicht allen Beteiligten zugestanden, sondern sie recht einseitig verteilt.

Und damit sind wir auch schon beim größten Minuspunkt: Die Figurenzeichnung weist unverkennbar sexistische Züge auf. Auch wenn es sich dabei um Reverse Sexism handelt, was auszureichen scheint, dass sich in politisch ansonsten sehr argusäugigen SF-Blogs niemand beschwert. Der Mobilisierungsgrad wäre vermutlich ein anderer, hätten wir es mit einer Erzählung zu tun, in der sämtliche – und zwar wirklich sämtliche – weiblichen Figuren als dumm/unsympathisch/inferior beschrieben würden, wie es hier bei den Männern respektive (Elefanten-)Männchen der Fall ist. Ansonsten eine faszinierende Erzählung.

Foto: Tor

Uwe Post, Uwe Hermann & Frederic Brake: "Biom Alpha: Der Krieg"

Broschiert, 256 Seiten, € 9,30, Biomalpha.de/Books on Demand 2018

Vergangenen Sommer ist der deutsche Autor Christian Weis nach einer Krebserkrankung gestorben – er war einer der Väter des "Biom Alpha"-Romanprojekts. Generell hat sich das Autorenteam für den dritten Band, der Weis gewidmet ist, stark verkleinert. Drei Autoren – Uwe Post, Uwe Hermann und Frederic Brake – sind es diesmal, die das Geschehen in ebenso vielen Handlungssträngen fortführen.

Die ersten beiden Bände, angesiedelt in den 2020er Jahren, drehten sich um die Ankunft eines Schwarms quasi-lebendiger Raumschiffe im Sonnensystem. Am Ende von Band 2 ("Der Aufbruch") ist dieser Schwarm, genannt Biom Alpha, ins nächste Sternensystem weitergezogen, nachdem er einige Besucher auf der Erde abgesetzt und dafür mehr oder weniger freiwillige Gäste auf seine Reise mitgenommen hatte.

Ein alter und zwei neue Fäden

Das wird nun dort fortgesetzt, wo ein solches Szenario logischerweise nur weitergehen kann ... im Thüringen des 15. Jahrhunderts. Dort wird Kriegsflüchtling Michel zusammen mit einer Handvoll Bauern von Kundschaftern eines (anderen?) Bioms in den Weltraum entführt. An Bord eines Habitatschiffs treffen sie auf ebenfalls gekidnappte Menschen, die zwar ihre Zeitgenossen sind, in ihrer Fremdartigkeit aber genauso gut von einem anderen Planeten stammen könnten: Es sind Azteken, die sich das Biom nach einem tragikomischen Zwischenspiel um Menschenopfer einverleibt hat. Erwartungsgemäß kommt es zwischen Deutschen und Azteken – die nebenbei bemerkt nicht gewusst hätten, was ein Rad oder ein Wagen ist – bald zum Konflikt.

Handlungsebene 2 dreht sich um den Biomgärtner Lo-Well und sein Familiengrüppchen, die auf einer "Höllenwelt" gestrandet sind. Zumindest präsentiert sich ihnen der Planet Bkek in den ersten Tagen als Orgie aus Regen, Wind und Schlamm wie ein endloses Glastonbury-Festival. Als das Wetter endlich aufklart, erblüht plötzlich das Leben – bald müssen Lo-Well und die Seinen aber feststellen, dass es zwei verschiedene Arten von Leben sind. Auf Bkek tobt ein Bio-Krieg – und das angreifende Ökosystem ist offenbar das, aus dem sie selbst stammen.

Auf Ebene 3 schließlich begegnen wir mit April Reignar der einzigen Figur wieder, die in allen drei bisherigen Bänden eine Hauptrolle gespielt hat. Die Astronomin reist nun mit dem Raumschiffschwarm ins Alpha-Centauri-System. Als einzige menschliche Begleitung ist ihr ausgerechnet der päpstliche Gesandte Vito Capello geblieben – ironisch, wenn man Aprils frühere Probleme mit Religiösen bedenkt. Mit ihm kommt sie aber inzwischen besser klar als mit ihren Gastgebern, die mitunter leicht genervt auf ihre naseweisen Gäste reagieren. (Kein Wunder allerdings, dass die sich wundern: Ein derart haarsträubend unprofessionelles First-Contact-Protokoll, wie die Biom-Gesandten es auf dem neuen Planeten demonstrieren, wirft schon Fragen auf.)

Von Plus ...

Ich will da jetzt nichts hineingeheimnissen, denn vom Ablauf her handelt es sich einfach um drei pulpige Abenteuer. Positiv fällt aber auf, dass sich alle drei Handlungsstränge in ein nicht unbedingt pulpiges Szenario einfügen: nämlich das vom Clash zwischen kleineren – um nicht zu sagen indigenen – Kulturen mit einer größeren und komplexeren Kultur, die sich (buchstäblich) all das greift, was sie brauchen kann, und auf den Rest pfeift. Die Menschen stehen in dem Fall auf der Indigenen-Seite, das Biom für die umspannende Welt(en)gemeinschaft.

Den blutigen Konflikt zwischen Deutschen und Azteken ignorieren die Biom-Bewohner so lange, bis er die Ruhe an Bord stört – dann werden die Beteiligten kurz niedergeknüppelt, vermittelnde und integrierende Maßnahmen bleiben aber aus. Auch April hat ihre liebe Not mit dem komplexen System des Bioms, zumal sich auch niemand dazu herablässt, ihr dessen Funktionsweise und Absichten näher zu erläutern. Die Bioinvasion von Bkek schließlich ist die offensichtlichste Ausformung des verlorenen Kampfes vom Kleinen gegen das Große. – Aber wie gesagt: nicht zu viel hineininterpretieren, pulpiges Abenteuer.

... zu Minus

Das größte Manko speziell an diesem Band ist, dass er kaum noch als Einzelwerk zu lesen ist. "Biom Alpha" war zuvor schon eine Wundertüte an auseinanderlaufenden Handlungssträngen. Viele davon sind auch bereits wieder verschwunden (wir erinnern uns vielleicht an die Alien-Invasion in Afrika, das Voynich-Manuskript oder die außerirdischen Besucher, die einen Asylantrag stellten), andere später dazugekommen. Das gilt auch für die Hauptfiguren: April ist mittlerweile als einzige personelle Konstante verblieben, und die kommt auch nur in einem Drittel der Erzählung(en) vor. Da bräuchte es eine stärkere Klammer.

The book doesn't end but simply stop, habe ich mal als sehr schöne Beschreibung einer ähnlich gearteten Erzählung gelesen. Die drei Handlungsstränge werden am Ende nämlich nicht zusammengeführt, über einige ominöse Andeutungen geht es leider nicht hinaus (was mag wohl hinter dem erwähnten Unheilverbreiter stecken?). Um vom Triple-Cliffhanger nicht gefrustet zu sein, würde ich daher tendenziell empfehlen, auf das Erscheinen von Band 4 zu warten und dann die beiden als Paket zu lesen.

Foto: Biomalpha.de

Rick Remender, Jerome Opeña & Matt Hollingsworth: "Seven to Eternity: Der Gott des Flüsterns"

Graphic Novel, gebundene Ausgabe, 128 Seiten, € 25,80, Cross Cult 2017 (Original: "Seven to Eternity Vol. 1: God of Whispers", 2017)

Jeder sympathisiert mit dem Schwächeren, solange man sich im Falle eines Konflikts nicht an seine Seite stellen muss, heißt es zu Beginn von "Seven to Eternity". Diese Anmerkung aus den Tagebüchern des Adam Osidis wird auf eine Graphic Novel einstimmen, in der ein auffallend hoher Anteil der Dialoge – trotz reichlich Action-Getümmeln und generell hohen Schauwerts – nicht auf die augenblickliche Situation bezogen ist, sondern das Wesen der Moral thematisiert.

Die Ausgangslage

Schauplatz des jüngsten Werks von Comic-Autor Rick Remender ("Deadly Class", "Black Science") ist die von Menschen und anderen intelligenten Wesen bevölkerte Fantasy-Welt Zhal. Es ist allerdings kein High-Fantasy-Setting, sondern eher etwas, das in einer fernen Zukunft, nach der einen oder anderen Katastrophe, angesiedelt sein könnte. Der Jedi-ähnliche Ritterorden der Mosak hat hier einst für Ordnung gesorgt, ist mittlerweile aber zerschlagen, seit sich einer seiner ehemaligen Angehörigen zum Schlammkönig respektive zum Gott des Flüsterns emporgeschwungen hat.

Jeder Mosak verfügt über eine spezielle magische Gabe. Der Schlammkönig kann jedem seinen innigsten Wunsch erfüllen – im Gegenzug erlangt er die Fähigkeit, künftig die Welt durch dessen Augen und Ohren wahrzunehmen. Mit anderen Worten: Er verleibt Bittsteller seinem System ein und etabliert ein Netzwerk, das allmählich ganz Zhal durchdringt und sich so immer stärker in Richtung allsehend und allwissend bewegt. Und wie wir wissen, ist Wissen Macht, und absolute Macht korrumpiert absolut. Das Szenario ist also sehr schön auf moderne politische Verhältnisse umlegbar: Es wurde ein System geschaffen, das Sicherheit und Zufriedenheit im Tausch für Zustimmung verspricht.

Widerstand

Dass die Lage in den ersten Abschnitten des Bands noch ziemlich unübersichtlich wirkt, liegt daran, dass sich noch nicht alle unterworfen haben. Das süße Gift, das der Schlammkönig ausgestreut hat, ist aber längst in die Gesellschaft eingesickert und schürt Konflikte – niemand kann sich mehr sicher sein, auf welcher Seite Freunde und Nachbarn stehen. Die eine oder andere Figur in "Seven to Eternity" wird daher auch beizeiten die Seiten wechseln; vielleicht sogar öfter als einmal.

Bei Hauptfigur Adam Osidis scheint klar zu sein, wo er steht. Der Mosak lebt zusammen mit seiner Familie im Exil, um sich nicht in die Machenschaften des Schlammkönigs verstricken zu lassen. Keime der Verführbarkeit wurden aber selbst in ihm angelegt. Die Familie hat unter dem kargen Leben im Exil, zu dem sie von Adams unbeugsamem Vater vergattert wurde, gelitten. Der Groll darüber schwärt in Adam ebenso wie die Krankheit, die ihm nicht mehr allzu lange Zeit lässt, Frau und Kindern ein besseres Leben zu sichern. Trotz der eindringlichen Warnungen seines Vaters läuft Adam also Gefahr, sich das flüsternde Angebot des Schlammkönigs (in etwa mit den Versprechungen des Einen Rings vergleichbar) doch noch anzuhören.

Die Optik

Zeichner Jerome Opeña, mit dem Rick Remender schon für die Reihen "Fear Agent" und "Uncanny X-Force" zusammengearbeitet hat, begann einst beim Magazin "Métal hurlant", und das sieht man seinen Illustrationen auch an: Die typisch US-amerikanische Comic-Optik mischt sich hier mit vielen Elementen, die eher der französischen SF- und Fantasy-Schule der 70er Jahre entsprungen scheinen. Zur Kolorierung der erfreulich detailscharfen Bilder hat Matt Hollingsworth tief in die Farbkiste gegriffen. Da kann sich – in Kategorien von Hollywood-Opulenz ausgedrückt – ins Dunkelbunt der "X-Men"-Filme durchaus mal der rote Technicolor-Himmel aus "Vom Winde verweht" schieben, wenn's die Stimmung grade erlaubt.

Das Ergebnis ist eine wildwuchernde Mischung mit hohem Schauwert, ob nun ein Reptil als "Pfeil" mit dem Bogen abgeschossen wird, Riesenkalmare über den Himmel ziehen oder Kampfszenen im Stil von "A Chinese Ghost Story" und den Lichtschwertduellen von "Star Wars" choreographiert werden. Magie und Biomechanoide gedeihen hier nebeneinander: "Seven to Eternity" schwebt in einem ähnlichen Nirgendwann und -wo zwischen Fantasy und SF wie einst Don Lawrences "Storm".

Sieht man von dem kleinen Makel ab, dass besagtes Philosophieren über das Wesen der Moral in seinen banaleren Momenten recht nahe an Kalenderweisheiten herankommt, handelt es sich also um ein rundum gelungenes Werk. Und natürlich erst um den Auftakt einer längeren Erzählung. "Der Gott des Flüsterns" fasst die ersten vier Hefte der zugrundeliegenden Serie zusammen: Da reicht der Platz gerade einmal aus, Adams grundlegendes Dilemma vorzustellen. Die an "Die sieben Samurai" erinnernde Gemeinschaft des Titels wird sich erst spät im Band zusammenfinden, um ihre Mission zur Rettung der Welt aufzunehmen. Wie es mit ihrer Queste weitergeht, erfahren wir im Mai, wenn Band 2 erscheint.

Foto: Cruss Cult

Orrin Grey & Silvia Moreno-Garcia (Hrsg.): "Fungi"

Broschiert, 288 Seiten, Innsmouth Free Press 2012, Sprache: Englisch

Wie eingangs versprochen, hier der Nachschlag. 2012 stellte Silvia Moreno-Garcia vom kanadischen Kleinverlag Innsmouth Free Press zusammen mit Autor Orrin Grey eine Anthologie zum Thema Pilze in der Phantastik zusammen. Die insgesamt 23 erstmals in diesem Band veröffentlichten Kurzgeschichten decken ein weites Feld ab, vom klassischen Spukhaus bis zum schwimmenden Pilz als Steampunk-U-Boot. Die Tendenz geht – entsprechend den schreiberischen Schwerpunkten der Autoren – in Richtung Horror bis Dark Fantasy, gesprenkelt mit Bizarrem und mitunter auch gezielt Albernem. Hier seien nur einige Highlights erwähnt.

Die üblichen Verdächtigen

+ Selbstverständlich darf der "Master of Mushrooms" Jeff VanderMeer hier nicht fehlen. Der Titel "Corpse Mouth and Spore Nose" verheißt bereits, was uns in der Erzählung erwarten wird: Ein Ermittler geht einem Vermisstenfall nach und stolpert über eine Leiche, die sich durch Pilzbewuchs im Zustand einer fortschreitenden Metamorphose befindet. Schauplatz ist die aus mehreren Romanen VanderMeers (z. B. "Shriek") bekannte Stadt Ambra, im Original Ambergris.

+ Ein anderer erwartbarer Kandidat auf der Liste Pilz war Laird Barron, spezialisiert auf Horror mit naturwissenschaftlichem Einschlag (empfehlenswert: "Hallucigenia"). Sein Anthologie-Beitrag "Gamma" ist eine nicht chronologisch erzählte Tour de Force durch das Leben der Hauptfigur, verwoben mit Berichten über Gewalttaten (fiktiven und solchen aus den Schlagzeilen), biologischen Info-Splittern und einem Ausblick auf eine sehr lange und sehr düstere Zukunft.

+ Bekannt für seine unvorhersagbaren Sprünge zwischen den Genres, hat Lavie Tidhar seiner Fantasie wieder einmal freien Lauf gelassen. "The White Hands" liest sich wie ein geschichtlicher Wikipedia-Eintrag aus einer Welt, die sich Menschen mit intelligenten Pilzen teilen.

+ Nicht so bekannt wie diese drei, liefert Kristopher Reisz mit "The Pilgrims of Parthen" nichtsdestotrotz ein weiteres Highlight ab. Politische Bezüge verbinden sich mit dem Fantastischen, wenn Reisz beschreibt, wie sich im Rust Belt der USA ein Pilz mit halluzinogener Wirkung ausbreitet. Der Konsum des Pilzes lässt Menschen von einer majestätischen Stadt auf einem anderen Planeten und bald auch von einem besseren Leben träumen. Man darf gespannt sein, ob es mit den Fluchtgedanken ein gutes Ende nehmen wird.

Nachschlag zum Nachschlag

Wer sich vor Pilzen immer schon ein bisschen geekelt hat, wird nach der Lektüre von "Fungi" bestimmt nicht zum Fan mutieren. Dafür sorgt schon die einleitende Erzählung "Hyphae" von John Langan ... nennen wir's eine eindringliche Mahnung, dass Fußpilz konsequent behandelt werden sollte. Zum Ausgleich – und als witzige Antwort auf all die Geschichten über invasive Pilze in dieser Anthologie – ist die mir bis dato völlig unbekannte Polenth Blake das Thema etwas lockerer angegangen. "Letters to a Fungus" enthält die (tendenziell einseitige) Korrespondenz einer Frau mit dem Pilz, der sich erst in ihrem Garten und schließlich auch in ihrem Haus ausbreitet. "Sorry about the exterminator. I should have given you a final warning. I do think it was a bit excessive to eat him."

Und wer jetzt von Pilzen immer noch nicht die Nase bzw. den Magen voll hat, für den haben die Herausgeber am Ende der Sammlung noch "A Brief List of Fungal Fiction" zusammengestellt: Verweise auf Pilze in der Phantastik, von Literatur bis zu Film und TV. Wir erinnern uns an die "Akte X"-Folge, in der Mulder und Scully im Myzel eines Riesenpilzes steckten und halluzinierten, sie wären längst frei ...

Die Rundschau wendet sich indes wieder anderen Themen zu. Auf dem Plan für's nächste Mal stehen unter anderem gesteuerte Zufälle, rockende Waldtiere sowie satte Militär-Action. Und ... nicht zu glauben, Andreas Brandhorst hat schon wieder ein dickes Ding auf den Markt gebracht. (Josefson, 24. 3. 2018)
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Weitere Titel
Überblick über sämtliche bisher rezensierten Bücher

Foto: Innsmouth Free Press