Als die vergangenen Nationalratswahlen geschlagen waren, war das Wort "Rechtsruck" in aller Munde – sowohl in der österreichischen als auch der internationalen Medienlandschaft. Aber war es wirklich ein umfassender Rechtsruck der Österreicher in den vergangenen Jahren, welcher der türkis-blauen Koalition in Österreich an die Macht verhalf?

Wirtschaftliche Wahlmotive reichen als Erklärung nicht aus

Unzweifelhaft liegt – wie von einigen Ökonomen kürzlich aufgezeigt wurde – in der wirtschaftlichen Lage der Bevölkerung ein Teil der Antwort für den allgemeinen Schwenk hin zu populistischen Parteien. Kurz gefasst könnte man diese Erklärung so zusammenfassen, dass je mehr ein Wähler wirtschaftlicher Unsicherheit ausgesetzt ist, und je geringer sein Bildungsgrad, desto größer die Wahrscheinlichkeit einer Wahlentscheidung für populistische Parteien. Aber es ist bei weitem nicht möglich, mit dieser Erklärung alleine das Aufstreben rechter und populistischer Parteien in Österreich und ganz Europa zu erklären.

Wie sowohl ich als auch Sylvia Kritzinger, Co-Projektleiterin des Forschungsverbunds Austrian National Election Study (AUTNES), in verschiedenen Beiträgen aufgezeigt haben, fällt es empirisch auch schwer, unter den Wählern einen generellen Schwenk hin zu rechtsliberaler Wirtschaftspolitik auszumachen – wirtschaftspolitisch gesehen stehen viele Wähler nach wie vor eher links als rechts. Auch sollten wir, wie vom Politikwissenschafter Laurenz Ennser-Jedenastik angemerkt, vorsichtig sein, wenn wir von ökonomischen Interessen der Wähler Schlüsse in Bezug auf ihre Wahlentscheidung ziehen: Oftmals ist die Einstellung zum Sozialstaat eher von kulturellen und gesellschaftlichen Wahrnehmungen geprägt, als von den eigenen wirtschaftlichen Interessen.

Weshalb stimmen zahlreiche wirtschaftspolitisch eher linke Wähler also für rechte Parteien?

Wählerprofil der österreichischen Wähler aus AUTNES 2013. Gezählt wurden Wähler und Sympathisanten.
Grafik: Michael Radhuber

Identitätspolitik vor Wirtschaftspolitik

Es steht die Vermutung im Raum, dass für die Wahlentscheidung der vergangenen Nationalratswahlen in erster Linie nicht wirtschaftliche Motive, sondern gesellschaftspolitische und kulturelle Motive ausschlaggebend waren. Unzweifelhaft spielte das Thema "Zuwanderung und Asyl" eine große Rolle, allerdings besteht der Verdacht, dass sich das Unwohlsein vieler Wähler nicht allein auf diese beiden Themenfelder beschränkt, sondern vielmehr auf ein breites Spektrum aus gesellschaftlichen, kulturellen und identitätsbezogenen Anliegen und Bedürfnissen.

Weltbürger versus Ländler

Der britische Journalist und Politikforscher David Goodhart bezeichnet das Aufstreben rechter und populistischer Parteien als politische Reaktion des fest in ihrem Heimatland beziehungsweise ihrer gewohnten Umgebung verwurzelten Teils der Wähler. Im Gegensatz zu den "Weltbürgern", die in den modernen Industrienationen über viele Jahre und Jahrzehnte Politik und Gesellschaft dominierten, sind diese "Ländler" wesentlich stärker in ihren Heimatorten verwurzelt, und beziehen ihre Identität oft durch ihre Gruppenzugehörigkeit oder bestimmte Orte, wie zum Beispiel der steirische Landwirt oder die burgenländische Hausfrau. Ein Teil der Ländler wurde von der Globalisierung sowie den wirtschaftlichen Entwicklungen vergangener Jahre regelrecht abgehängt, insbesondere die Gruppe der Personen mit geringerem Bildungsgrad.

Die Weltbürger könnte man auch lose als progressive Individualisten bezeichnen. Sie erzielen oft gute Resultate in der Schule, viele machen erfolgreich Karriere. Autonomie, Mobilität und ein Hang zum Neuen sind vielen gemein. Globalisierung, Immigration, europäische Integration und universelle Menschenrechte werden von ihnen positiv und als Möglichkeiten wahrgenommen, die es zu nutzen gilt. Wo die Interessen von Weltbürgern betroffen sind, ist politische Bewegung im Spiel.

Deutliche Mehrheit

Die Ländler wiederum sind mengenmäßig in der deutlichen Mehrheit. Trotzdem sind sie in der gesellschaftlichen "Elite" unterrepräsentiert. Ihre Interessen werden oftmals nur unzureichend wahrgenommen, geschweige denn umgesetzt.

Für die Ländler zählen Identität, Tradition, gesellschaftliche Übereinkommen wie Treue, Heimatland und Familie. Im Allgemeinen gelten sie als sozial konservativer im Vergleich zu den Weltbürgern, und legen großen Wert auf die Gemeinschaft. Viele von ihnen fühlen sich unwohl in Bezug auf zahlreiche Aspekte des kulturellen und wirtschaftlichen Wandels, seien es die Massenmigration, die Leistungsgesellschaft, die gesellschaftliche Geringschätzung von Arbeiter- und Handwerksberufen, oder die mobileren Geschlechterrollen.

Wählerprofil aus ESS 2016. Gezählt wurden sowohl Wähler als auch Sympathisanten (vergangene Wahl).
Grafik: Michael Radhuber

Was Ländler und Weltbürger trennt

Aber auch die meisten Ländler sind moderne Menschen für die Frauen- und Minderheitenrechte, Meinungsfreiheit, demokratische Machtkontrolle, die Konsumgesellschaft sowie die individuelle Wahlfreiheit Teil ihres Lebens darstellen. Sie sind den Idealen der Weltbürger nicht vollkommen verschlossen, aber sie wollen diese Ideale langsamer und moderater umgesetzt sehen.

Was die Ländler von den Weltbürgern jedoch trennt ist, dass sie noch immer an so etwas wie eine Gemeinschaft von Menschen, die Gesellschaft, glauben. Viele der zahlreichen und tiefgehenden gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre und Jahrzehnte werden von den Weltbürgern oft als unausweichlich, ja fast fatalistisch dargestellt. Die Massenmigration kommt in ihren Augen einer Naturgewalt gleich, der nichts entgegengesetzt werden kann. Ähnlich die Globalisierung sowie die europäische Integration, und die damit einhergehenden sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen. Die Ländler sehen das deutlich differenzierter, und werden deshalb von den Weltbürgern oftmals von oben herab betrachtet, oder gar gänzlich ignoriert. Die Ländler haben ihren Glauben an die Gestaltungsfähigkeit unserer Gesellschaft noch nicht verloren, sie möchten das Gewohnte und Bekannte erhalten und wertschätzen.

Plädoyer für einen moderaten Nationalismus

Anhand dieser, empirisch zumindest für Großbritannien relativ gut fundierten Differenzierung der Wähler, gelingt es Goodhart, eine alternative These für die politischen Entwicklungen der letzten Jahre und Jahrzehnte, abseits der gängigen ökonomischen Erklärungsmuster aufzustellen. Im Vordergrund steht dabei die über die Ziele hinausgeschossene Hyperglobalisierung sowie ein überbordender Liberalismus und Individualismus, die mit der Wertehaltung eines großen Teils der Bevölkerung nicht oder nur schwer vereinbar sind. Die (Massen-)Migrationsbewegungen der vergangenen Jahre haben das Fass dann zum Überlaufen gebracht, was zum Beispiel in Großbritannien letzten Endes zum Brexit geführt hat.

Goodhart bezeichnet den Rechtsruck, der durch die europäischen Gesellschaften gefahren ist, auch als Gegenreaktion der Ländler auf die überbordende Dominanz der Weltbürger. Und er warnt, dass ohne einen bodenständigeren, emotional intelligenteren Liberalismus noch wesentlich unangenehmere Gegenreaktionen drohen. Es sei an der Zeit, dass die Weltbürger die Interessen und Bedürfnisse der Ländler verstehen und respektieren lernen, und einige dieser Gefühle und Intuitionen auch zum Anlass für entsprechende Veränderungen nehmen.

Nicht nur wirtschaftliche Gründe sorgten für einen Sieg von ÖVP und FPÖ.
Foto: APA/AFP/VLADIMIR SIMICEK

Die oft verkannte Sinnhaftigkeit "alter" Werte

Es gibt auch keine Rechtfertigung für die oft arrogante Haltung von Weltbürgern gegenüber Ländlern: Denn einige der Einstellungen und Grundhaltungen von Ländlern seien grundvernünftig. Dank Menschen wie dem Politikwissenschaftler Robert Putnam wissen wir heute um den Stellenwert von allgemeinem Vertrauen und dem sogenannten "sozialen Kapital", also Netzwerke und Institutionen, welche die gemeinschaftlichen Interessen fördern, für die Entwicklung erfolgreicher Gesellschaftsformen und Industrienationen. Ein Zuviel an Migration, besonders aus kulturell fremden Ländern, wirkt sich negativ auf das allgemeine Maß an Vertrauen und Gewohnheit in Gesellschaften aus. Schnell zunehmende Diversität kann sich auch nachteilig auf den Sozialstaat auswirken, indem vielen Leuten die Bereitschaft abhanden kommt, mit anderen Mitbürgern zu teilen beziehungsweise diese zu unterstützen.

Die verfügbaren wissenschaftlichen Daten weisen darauf hin, dass ethnisch heterogenere Gesellschaften eine allgemein geringere Bereitschaft zur Umverteilung, und somit mittelfristig auch einen wesentlich schwächeren Sozialstaat – wenn überhaupt – entwickeln. Wir können schließlich auch in Österreich empirisch feststellen, dass besonders Bevölkerungsteile mit weniger Einkommen sehr sensibel sind, wenn es um das Thema "Schwarzfahrer im Sozialstaat" geht.

Stellenwert der Familie

Und wie steht es um den Stellenwert von Familie in unserer Gesellschaft? Ist es wirklich sinnvoll, einen Großteil der Betreuungs- und Erziehungsarbeit von Kindern an den Staat auszulagern, damit möglichst viele Frauen am Arbeitsmarkt partizipieren und in manchen Fällen auch Karriere machen können – oftmals ungeachtet der tatsächlichen Wünsche dieser Frauen?

Die empirische Evidenz zeigt klar auf, dass das Verbringen von viel Zeit in Kinderbetreuungseinrichtungen oftmals nachteilige Effekte für sehr kleine Kinder mit sich bringt – mit Ausnahme von Familien mit geringem Einkommen. Am meisten Förderung erhalten Kinder noch immer in stabilen – oftmals verheirateten – Zwei-Eltern-Familien. Sollte hier nicht auch vermehrt der Fokus auf eine – rechtlich und finanziell entsprechend geförderte – Wahlfreiheit von Frauen und Eltern gelegt werden, anstatt immer nur auf das Angebot an Kinderbetreuungseinrichtungen zu schielen? Wäre es nicht sinnvoll, Förderungsmaßnahmen zu ergreifen, die zum Ziel haben, die hohen Scheidungs- und Trennungsraten in Familien mit Kindern wieder etwas zu reduzieren, indem das Zusammenleben sowie der Elternalltag wieder einfacher und sorgenloser gestaltet werden?

Wählerprofil aus ESS 2016. Gezählt wurden Wähler und Sympathisanten (vergangene Wahl).
Grafik: Michael Radhuber

Früher war alles besser

Vielleicht fällt es uns einfacher, die auch in Österreich weitverbreitete Meinung, dass früher alles besser war, zu verstehen, wenn wir den Fokus weg von ökonomischen Entwicklungen der Vergangenheit richten. Einerseits ist es richtig, dass die Gesellschaftsschichten mit weniger Einkommen im Gegensatz zu den Weltbürgern nicht beziehungsweise nur marginal von den wirtschaftlichen Entwicklungen der vergangenen Jahre profitiert hatten. Aber möglicherweise sind für das unter den Ländlern weitverbreitete Gefühl, dass Veränderung Verlust bedeutet, eher Bedürfnisse wie die soziale Zugehörigkeit, die Anerkennung von Arbeit und sozialen Rollenverteilungen ausschlaggebend. Unter diesen Gesichtspunkten erscheint das Bedürfnis, die Uhr zurückdrehen zu wollen, nicht immer so irrational, als wenn man den Fokus alleine auf wirtschaftliche Entwicklungen richtet.

Vielen Weltbürgern gelingt es nicht, diese politischen Veränderungen richtig zu interpretieren. Der US-Psychologe Jonathan Haidt verweist auf Unterschiede in der moralischen Wertehaltung der Bevölkerung, um diese Blindheit der Weltbürger verstehen zu können. Weltbürger versuchen die politischen Entwicklungen vor dem Hintergrund ihrer eigenen Wertehaltung zu interpretieren, und konzentrieren sich deshalb zumeist auf materielle Gewinne oder Verluste. Für die Ländler zählen jedoch moralische Werte wie Loyalität zur eigenen Gruppe oder Respekt viel mehr. Um die vergangenen Wahlausgänge richtig zu verstehen, bedarf es der richtigen Wertebrille, und Weltbürger besitzen dafür einfach das falsche Modell.

Am Ende des Tages sind und bleiben wir Menschen Herdentiere, und unsere moralische Wertehaltung ist gekennzeichnet durch Jahrtausende von Evolution. Ländler verstehen das einfach besser als Weltbürger. Und wer will schon in einer hyperindividualistischen und hyperliberalen Gesellschaft leben, in der die eigenen Wurzeln, Familie, berufliche Anerkennung, Tradition und soziale Rollenverteilung überhaupt keine Rolle mehr spielen? Der Autor dieses Blogbeitrages jedenfalls nicht. (Michael Radhuber, 1.2.2018)

Literaturempfehlungen

  • David Goodhart, The Road to Somewhere: The Populist Revolt and the Future of Politics, Oxford University Press, 2017
  • Jonathan Haidt, The Righteous Mind: Why Good People are Divided by Politics and Religion, Penguin UK, 2012

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