"Noten sind etwas sehr Banales, Verkürzendes, Pauschalisierendes. Aber vor allem für Eltern, gerade auch aus anderen Kulturkreisen oder für sehr ehrgeizige Eltern, haben sie eine Aussagekraft", sagt der Volks- und Sonderschullehrer Josef Reichmayr.

Foto: Bernadette Reiter

STANDARD: Sie sind das Sprachrohr der Initiative #LerneGerne. Was ist das Ziel dieser Aktion?

Reichmayr: Das Ziel ist, positiv darzustellen, was Schule leisten kann unter dem Postulat der Differenzierung und Individualisierung, die es bisher gab und hoffentlich weiter geben wird. Wir wollen zeigen, was Kinder an alltäglicher Ermunterung und Begleitung für erfolgreiches Lernen brauchen und welche Rolle Ziffernnoten dabei spielen. Das Vorbild ist etwa #MeToo, auch wenn wir keine spektakulären Einträge haben. Die Kinder schreiben selbst, und es ist oft berührend und beängstigend zu lesen, wie es ihnen mit Notenbeurteilung geht.

STANDARD: Sie wollen die Regierung von ihrem Programm abbringen?

Reichmayr: Wir wollen allen vor Augen führen, dass es Alternativen gibt, die funktionieren. Tausende Volksschullehrerinnen und -lehrer in ganz Österreich praktizieren das seit Jahren mit viel Aufwand und großer Wirkung. Wir zeigen das an der Lernwerkstatt Brigittenau seit 20 Jahren, seit zehn Jahren sogar von der ersten bis zur achten Schulstufe. Unsere Erfolge können sich sehen lassen. Da sind wir als öffentliche Schule ziemlich allein auf weiter Flur, aber im privaten Bereich gibt es das ja auch. Die Absolventen der Waldorf-Schulen etwa bestehen später im Leben auch, ohne benotet worden zu sein. Das Notensystem ist ein reines Steuerungsinstrument. Wenn Kinder mit zehn Jahren auseinandergerissen werden in ihren Schulverläufen, dann braucht man natürlich die Noten, um zu begründen, wer an welche Schule gehen darf. Das war bisher schon so, jetzt wird noch eins draufgesetzt.

STANDARD: Das Argument der Ziffernnoten-Befürworter lautet, die verbale Beurteilung sei ja weiterhin zusätzlich möglich ...

Reichmayr: ... das kennen wir schon, das habe ich schon der vorigen Bildungsministerin Hammerschmied im Herbst 2016 in einem öffentlichen Brief gesagt: Gut, dass es Schulautonomie gibt, aber wenn, dann muss man sie konsequent leben. Wenn dann zentralistisch verordnet wird, dass man die fünfteilige Ziffernskala trotz alternativer Beurteilung zu berücksichtigen habe, führt sich die Autonomie ad absurdum. Nicht nur ich habe damals gesagt: Dann habt uns gerne, dann geben wir gleich wieder nur Noten. Das ist ja eine völlige Verkennung der Substanz einer alternativen Beurteilung.

STANDARD: Ein Pro-Argument lautet auch, die Schüler selbst freuten sich über Benotung, weil sie sich gerne vergleichen. Ist da was dran?

Reichmayr: Noten sind etwas sehr Banales, Verkürzendes, Pauschalisierendes. Aber vor allem für Eltern, gerade auch aus anderen Kulturkreisen oder für sehr ehrgeizige Eltern, haben sie eine Aussagekraft. Aber das kann man auch anders machen: Wir führen mit jedem Kind in jedem Semester Gespräche, bei denen wir ausloten, wo sie stehen, was ihre Stärken sind und wo sie Nachholbedarf haben. Da sind die Eltern dabei, sie bekommen einen guten Überblick, wo ihre Kinder stehen. Das gibt es seit langem, da haben wir gute Erfahrungen gemacht. Und natürlich könnte man zum Ende der Volksschulzeit auch nur ins Zeugnis hineinschreiben, dass ein Kind "voraussichtlich AHS-reif" ist.

STANDARD: Sie bezeichnen die Lernwerkstatt als gallisches Dorf. Ist sie nicht einfach eine Gesamtschule?

Reichmayr: Jo mei, wenn man so einen Begriff möchte, sind wir das. Für manche ist das leider der Gottseibeiuns. Bei uns gibt es diese Besonderheit, dass unsere Kinder von der ersten bis zur siebenten Schulstufe ohne Noten beurteilt werden, wir führen Mehrstufenklassen, verknüpfen Volks- mit Mittelschule und versuchen, auf jeden Schüler und jede Schülerin individuell einzugehen. Das System bewährt sich, die meisten, die hier als Volksschüler anfangen, bleiben auch gerne bis zur achten Stufe da.

STANDARD: Im Regierungsprogramm ist die Rede davon, Schulversuche auslaufen zu lassen. Wäre das auch das Ende für Ihre Schule?

Reichmayr: Das ist eine spannende Frage. Unsere schulpartnerschaftlich besetzte Qualitätskommission wird im Februar eine Urabstimmung unter den Schulpartnern durchführen, ob die Mehrheit dafür ist, dass dieser Schulversuch weitergeführt wird. Wenn eine große Mehrheit dafür ist, kann ich zumindest sagen, okay, das ist unser demokratischer Wille. Ich hoffe, dass das Ergebnis dieser Abstimmung Beachtung findet. Die Regierung will ja auch die partizipative Demokratie stärken. Wir sind auch eine kleine gesellschaftliche Einheit. Uns gibt es seit 20 Jahren, viel, viel mehr Kinder wollen zu uns an die Schule kommen, als wir je aufnehmen können. Man wird sich schon überlegen müssen, ob man über uns drüberfährt. Möglich ist es, das Schulsystem ist ein zentralistisches, hierarchisches System.

STANDARD: Die Regierung will die Sonderschulen erhalten. Was halten Sie davon?

Reichmayr: Ich bin hier kein Dogmatiker. Je radikaler man individualisiert, nicht nur durch die Klassengrößen, sondern auch dadurch, wie man den Tagesablauf insgesamt gestaltet, desto mehr Möglichkeiten öffnen sich für eine wirkliche Differenzierung. Wir haben etwa eine Lebenspraxisgruppe etabliert, da kommt ein Teil der Integrationskinder, für die das gut passt, zusammen. Da gibt es sehr elementare Angebote, etwa Kochen, Einkaufen etc., da fassen wir alle Kinder verschiedener Altersstufen zusammen. Das ist für mich kein Tabubruch gegenüber einer Integration oder Inklusion, sondern Teil eines differenzierten Lerngeschehens.

STANDARD: Befürworten Sie auch Sprachförderklassen, wie sie der Bildungsminister einführen will?

Reichmayr: Es ist gut, dass es offenbar mehr Ressourcen geben soll. Aber ich bleibe dabei: Im Rahmen der Schulautonomie sollen die Schulen selbst bestimmen, was sie brauchen. Sie sollen es tun, wenn sie es brauchen, und lassen, wenn sie es nicht brauchen. Diesen Zentralismus, die Verordnung von oben, halte ich für falsch. Das ist kein neuer Stil, das ist alte Unkultur. Oder wenn schon Zentralismus, dann den richtigen.

STANDARD: Was wäre der richtige?

Reichmayr: Dass man etwa endlich die Grundbestimmungen für Volksschulen ändert. Eine Klassenlehrerin für 25 Kinder, das ist nicht mehr zeitgemäß und spiegelt auch die gesellschaftlichen Gegebenheiten nicht wider. Wir bräuchten längst die Verordnung, dass in einer Klasse mindestens zwei Lehrer zu stehen haben. Wir brauchen ein Bekenntnis zur Möglichkeit der Mehrstufenklassen. Diesen Schulversuch gibt es jetzt seit bald 20 Jahren, es gibt mindestens 100 solcher Klassen allein in Wien, und es herrscht völlige Ungewissheit, wie es da weitergeht.

STANDARD: Was passiert, wenn Ziffernnoten vorgeschrieben werden?

Reichmayr: Dann werden wir eben auch mit Ziffern benoten. Aber wie es dann mit der Notenwahrheit steht, ist fraglich. Der Gesetzgeber hat detailliert vorgegeben, was ein "Sehr gut" ist: Leistung, weit über den Durchschnitt hinaus. Demzufolge sind die überwiegende Mehrheit der Volksschüler kleine Genies, weil sie in der vierten Klasse lauter Einser haben, damit sie ins Gymnasium kommen. Man kennt auch den Druck der Eltern auf die Lehrer diesbezüglich. Kommen Kommissare an die Schulen, die die Notengebung kontrollieren? Da kann man verordnen, was man will, die Realität wird eine andere sein. Das sind alles Ablenkungsmanöver, damit man nicht genau hinschauen muss, was Kinder wirklich können. Wir reden nur über die blöden Noten. (Petra Stuiber, 1.2.2018)