Der Weg über die Pyrenäen nach Spanien ist Walter Benjamins letzter Gang. "Les Unwanted de Europa" von Fabrizio Ferraro rückt die Vergangenheit in ein neues Licht.

Foto: Filmfestival Rotterdam

Wien – Langsam steigt Walter Benjamin den Berg hinauf. Bedächtig setzt er einen Fuß vor den anderen. Er muss sein Herz schonen, wenn dieser Pfad über die Pyrenäen nicht sein letzter Weg sein soll. Er wird es sein, aber das kann er noch nicht wissen. Oder etwa doch? Der Philosoph trägt, als er mit einer kleinen Gruppe im September 1940 vor dem Vichy-Regime nach Spanien flieht, einen dunklen Anzug, seine Hand hält fest umklammert eine Aktentasche. Ihr Inhalt sei das Kostbarste, was er besitze, so Benjamin, viel wichtiger als er selbst.

Vielleicht beinhaltet die Tasche seinen posthum veröffentlichten Aufsatz Über den Begriff der Geschichte. Vorbei geht es an Weinstöcken und Olivenbäumen, und plötzlich löst sich die Kamera auf kühne Weise von den Figuren, schwebt über die schwarzweiße Landschaft und über Sonnenlicht reflektierende, funkelnde Baumkronen. An jenem Tag könnte Walter Benjamin auch jemand anderer sein, einer der Unzähligen, die durch Europa wandern.

International Film Festival Rotterdam

Les Unwanted de Europa von Fabrizio Ferraro, der soeben beim Internationalen Filmfestival von Rotterdam seine Weltpremiere feierte, zählt bereits jetzt zu den Entdeckungen des noch jungen Kinojahres. Zu sehen im Programm A History of Shadows – einer den Wettbewerb begleitenden Nebenschiene, die sich zusehends als tragende Säule des Festivals erwies -, beantwortet Ferraros verwegener Essayfilm über die letzten Tage Benjamins auf der Flucht auf so kluge wie bemerkenswerte Weise eine schwierige Frage: Wie geht das Kino mit der Geschichte um, die eben nicht in Stein gemeißelt hinter uns liegt? Und wie reagiert das Kino, selbst eine riesige Geschichtsfabrik, auf eine Vergangenheit, die mit jedem Tag aufs Neue bewertet wird – und die ihrerseits ihren Schatten in die Gegenwart wirft?

Vorurteile der Gegenwart

Anhand von A History of Shadows ist jedenfalls gut feststellbar, wie kuratorische Arbeit bei Festivals auszusehen hat: Neben Premieren und aktuellen Arbeiten wie Les Unwanted de Europa findet sich etwa Robert Schwentkes jüngste Filmbiografie Der Hauptmann über den deutschen Kriegsverbrecher Willi Herold. "Geschichte ist immer ein Blick zurück aus einer spezifischen Gegenwart mit ihren jeweiligen Vorurteilen und Absichten", sagt Schwentke – eine Position, die man auch in der das Programm komplettierenden Diskussion erörtert hat.

Weltkino Filmverleih

Dem deutschen Filmemacher Dominik Graf, mit seiner Fernseharbeit Der rote Schatten über den Freitod oder die mögliche Ermordung der RAF-Mitglieder in Stammheim in Rotterdam vertreten ("Es gibt in der Geschichte über Baader-Meinhof keine Wahrheit"), ist der Anspruch auf Authentizität im Kino per se suspekt: Die Vergangenheit sei, so Graf, ein Mysterium, dem man eben nicht mit dem inflationär verwendeten Hinweis auf die "wahre Geschichte" beikommen könne.

Eine Sichtweise, die auch klug in dieses Programm gestreute Klassiker wie Straub/Huillets Geschichtsunterricht (1972) oder der vielerorts als wichtigster ägyptischer Film eingeschätzte und nun restaurierte The Mummy des 1986 verstorbenen Shadi Abdel Shalam verdeutlichen: Der Schatz der Pharaonen, der hier einen jungen Beduinen zwischen die Fronten seines Stammes und der Regierung manövriert, erscheint plötzlich wie ein Vermächtnis des Kinos selbst, in dem sich die Moderne der Tradition bemächtigt. Denn so, wie sich die Gegenwart fortwährend verändert, so wandelt sich mit ihr auch der filmische Blick zurück. Anders gesagt: Wo sich das Kino die Freiheit der Interpretation nimmt, bietet es zugleich neue Sichtweisen an.

Denkanstöße und Fragestellungen

Solche Denkanstöße zu setzen, ein Programm mit Masterclasses zu bereichern (mit Lucrecia Martel und ihrem formidablen Historienfilm Zama), ist die Stärke von Rotterdam, das sich im Gegensatz zu Glitzerfestspielen wie Cannes und Venedig solchen Fragestellungen widmen kann. Eine programmatische Leistung und vertiefende Auseinandersetzung, die auch der Viennale gut anstünde.

The Match Factory

Das Kino in "postfaktischen Zeiten" braucht keine gefühlte Wahrheit, sondern eine, die aus seiner Form und seiner Ästhetik hervorgeht. "Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen, ,wie es denn eigentlich gewesen ist'. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt" (Walter Benjamin). (Michael Pekler aus Rotterdam, 2.2.2018)