STANDARD: Sie haben seit der Angelobung vor Weihnachten versucht, die Verlässlichkeit der Regierung in Europa zu garantieren, sind dafür zu den wichtigsten EU-Partnern gereist, und jetzt gab es seit zehn Tagen nur noch ein Thema: die Naziliederaffäre rund um die FPÖ. War es das mit "proeuropäisch"?

Kurz: Die Bundesregierung hat sich mit dem Regierungsprogramm ganz klar Leitlinien für die Arbeit in den nächsten fünf Jahren gelegt. Eine proeuropäische Ausrichtung war immer die Bedingung der Volkspartei. Zu etwas anderem wäre ich auch nicht bereit gewesen. Ich habe im ersten Monat sehr viele Kontakte mit Staats- und Regierungschefs gehabt, auch mit den EU-Spitzen in Brüssel, und ich bin überzeugt, dass es ein großes Vertrauen in die Ausrichtung unserer Regierung gibt.

STANDARD: Das war der Stand bis vergangene Woche. Macron, Merkel hatten gesagt, sie glauben das auch, Juncker hatte das stark betont. Aber sie haben damals auch dazugesagt, sie würden die Regierung beobachten und an ihren Taten messen. Naziverherrlichende Lieder, Deutschnationalismus aus einer Regierungspartei, das steht ja gegen alles, was die Europäer als das Gemeinsame verstehen. Lässt sich das einfach vom Tisch wischen?

Kurz: Es wäre auch falsch, es vom Tisch zu wischen. Wenn es solche Vorfälle in Österreich gibt, dann wird mein Ziel immer volle Aufklärung und die volle Härte des Gesetzes für alle Verantwortlichen sein. Wenn dann sogar Politiker betroffen sind, dann muss es darüber hinaus auch politische Konsequenzen geben. Es gab in der vergangenen Woche sechs Personen, denen Antisemitismus vorgeworfen wurde, in vier Fällen wird derzeit auch ermittelt. In zwei der vier Fälle, wo ermittelt wird, sind SPÖ-Fälle betroffen, in einem Fall handelte es sich um einen FPÖ-Politiker. Keine Partei ist davor gefeit.

STANDARD: Auch die ÖVP nicht?

Kurz: Ich hatte selber als Bundesobmann der Jungen Volkspartei den Fall, dass es Personen gab, die sich widerwärtig verhalten haben. Wir haben sie sofort aus unserer Bewegung ausgeschlossen. Als Regierung haben wir, was die Vorkommnisse um die Burschenschaft Germania betrifft, auch sofort gehandelt, nämlich ein Auflösungsverfahren gestartet. Insofern kann ich nur sagen, das, was die Regierung tun kann, das werden wir in solchen Fällen immer nutzen, nach unseren Möglichkeiten. Den Kampf gegen Antisemitismus habe ich als Staatsekretär und als Außenminister verfolgt, ich werde ihn selbstverständlich auch als Bundeskanzler verfolgen. Das ist so auch in unserem Regierungsprogramm ganz klar verankert.

STANDARD: Von Brüssel kommend hat man den Eindruck, da ist die eine Regierungspartei am falschen Fuß erwischt worden. Auch Kritiker haben zwar anerkannt, dass gehandelt wurde, der FPÖ-Kandidat ist von allen Ämtern zurückgetreten. Aber wenn so etwas noch einmal passiert – während der österreichischen EU-Vorsitzes ab Juli –, wäre das eine Imagekatastrophe für die Regierung und Österreich?

Kurz: Jedes Mal, wenn es solche Fälle in unserem Land gibt, gerade mit unserer historischen Verantwortung, ist das ein Imageschaden für unser Land, ganz gleich, ob es sich um FPÖ-Politiker, SPÖ- oder ÖVP-Politiker handelt. Ich werde immer dagegen ankämpfen, egal von welcher Partei das kommt oder um welchen Staatsbürger es sich dabei handelt.

Sebastian Kurz kehrte ins holzgetäfelte "Kreiskyzimmer" zurück, Büro des früheren SPÖ-Bundeskanzlers. Seine Vorgänger benützen seit Wolfgang Schüssel das Metternichzimmer.
Foto: Matthias Cremer

STANDARD: Es gab Kritik, dass die Reaktion der Regierung zu langsam kam.

Kurz: Ich habe eine Stunde nachdem die Vorwürfe bekanntgeworden waren darauf reagiert und das klar verurteilt. Kurze Zeit darauf haben wir als Volkspartei erklärt, dass es mit Udo Landbauer keine Zusammenarbeit gibt. Als Regierung treffen wir die Maßnahmen, die eine Regierung treffen kann, wie zum Beispiel das Auflösungsverfahren gegen die Burschenschaft Germania. Weder Sie noch ich haben in der Hand, ob es solche Vorfälle gibt. Wenn es sie gibt, wenn jemand sich etwas zuschulden kommen lässt, dann darf es gerade in dieser Frage keine Toleranz geben.

STANDARD: Ist dem Vizekanzler Heinz-Christian Strache klar, dass er besonders dringenden Handlungsbedarf hat, dass es da gegenüber den europäischen Partnern keinerlei Interpretationsspielraum gibt? Es macht ein wenig den Eindruck, dass er zwar etwas versucht, aber da die FPÖ sehr eng mit den Burschenschaften verbunden ist, ist das etwas schwierig.

Kurz: Er hat in den letzten Jahren immer wieder, wenn es solche Vorfälle gab, Personen aus der Partei ausgeschlossen, die sich etwas zuschulden haben kommen lassen. Er hat beim Akademikerball klar seinen Weg skizziert, nämlich gegen Antisemitismus anzukämpfen. Heinz-Christian Strache hat gesagt, wer diesen Weg nicht mitgehen möchte, der soll aufstehen und gehen. Und er hat angekündigt, eine Historikerkommission einzusetzen, um die Geschichte der FPÖ, des dritten Lagers, auszuarbeiten. Ich halte das für sinnvoll. Die SPÖ und die ÖVP haben das schon gemacht. Bei der FPÖ ist das notwendig.

Der Kanzler sieht sich zu Unrecht ins rechte Lager von Ungarns Premier Viktor Orbán gestellt. Das Gespräch mit diesem habe nur eine Stunde gedauert, deutlich mehr Zeit widmete er den niederländischen Premier Mark Rutte.
Foto: Matthias Cremer

STANDARD: Wäre es nicht sinnvoller, wenn die Regierung als Ganzes eine solche Kommission beauftragt, mit den besten Historikern und unabhängigen Experten, um dem besondere Glaubwürdigkeit zu geben? Um den Geruch zu vermeiden, dass die FPÖ sich selbst untersucht.

Kurz: Die Experten sollen unabhängig sein, aber es ist Aufgabe einer jeden Partei, selbst ihre eigene Geschichte aufzuarbeiten. Das kann keine Aufgabe einer Bundesregierung sein. Die Regierung hat in diesem Jahr sehr viele Aufgaben, was die Auseinandersetzung mit unserer Geschichte als Republik im Rahmen des Gedenkjahres betrifft. Und die Bundesregierung hat sich das Ziel gesetzt, massiv gegen Antisemitismus anzukämpfen. Die Aufarbeitung der Geschichte einer Partei ist Aufgabe der Partei, die alles tun sollte, das auch mit unabhängigen Historikern.

STANDARD: Um das auf die europäische Dimension zu heben: Es ist das natürlich ein Problem der FPÖ. Aber seit die Regierung Kurz angetreten ist, wird sie auch als Ganzes von Zweifeln begleitet, dass sie sich wegen der EU-skeptischen Haltung der FPÖ gegen Europa richten könnte. Ein anderes Beispiel für solche Zweifel ist der Umgang mit Ungarns Premier Viktor Orbán, der den EU-Partnern zunehmend Solidarität und Gefolgschaft verweigert. Kritiker sagen, Sie stünden ihm diesbezüglich viel zu nahe. Wie sehen Sie das, ist das eine Unterstellung? Wo ordnen Sie sich selbst ein im Tableau der europäischen Regierungschefs, der Länder?

Kurz: Es ist offensichtlich, was hier geschieht, wenn Oppositionsparteien etwa behaupten, Viktor Orbán sei mein erster Staatsgast gewesen.

STANDARD: War er nicht, der erste war der niederländische Premier Mark Rutte Anfang Jänner.

Kurz: Es wird mit Absicht behauptet, um mich als politischen Gegner in eine ganz bestimmte Richtung zu positionieren.

STANDARD: Wie sehen Sie es selbst?

Kurz: Es wird versucht, den Eindruck zu erwecken, als sei Orbán der erste Staatsgast gewesen, weil man vermitteln will, dass es zu ihm eine größere Nähe als zu anderen Staats- und Regierungschefs gibt. Es ist einfach eine Falschinformation an die Bevölkerung, rein parteipolitisch motiviert.

Das dunkle Kreisky-Zimmer wurde mit hellen Möbeln und Lichteffekten aufgepeppt, erklärt der Kanzler. An der Wand der Fensterfront hängt als einziges Porträt im Raum ein Foto von Altkanzler Bruno Kreisky.
Foto: Matthias Cremer

STANDARD: Also gibt es diese Nähe zu Orbán, die man Ihnen nachsagt, so gar nicht?

Kurz: Faktum ist, meine erste Reise war – unmittelbar nach der Angelobung der Regierung – ganz bewusst nach Brüssel. Meine erste bilaterale Auslandsreise ging zum französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron nach Paris. Gleich danach habe ich die deutsche Kanzlerin Angela Merkel in Berlin getroffen. Mein erster Gast in Österreich war am 1. Jänner der niederländische Premierminister Mark Rutte, nach wenigen Tagen im Amt.

STANDARD: Beim Neujahrskonzert.

Kurz: Und zu einem Arbeitstreffen hier in diesem Raum, das zeitlich gesehen sogar ausführlicher war als mit Viktor Orbán. Mark Rutte ist ein Liberaler, dem ich mich in sehr, sehr, sehr vielen Fragen nahe fühle, mit dem wir in ganz vielen Bereichen in der Europäischen Union an einem Strang ziehen werden. Das ist die Realität. Man muss sich fragen, ob manche die Realität interessiert, oder ob es nur darum geht, mich nach weit rechts zu positionieren, ganz egal, ob es der Wahrheit entspricht oder nicht.

STANDARD: In einem Interview mit der "FAZ" haben Sie gesagt, wenn man in Europa etwas verändern will, dann braucht man eine gute Vernetzung. Das war nach dem Treffen mit Macron in Paris, der ursprünglich ein Sozialist war, also kein Parteifreund von Ihnen eigentlich, der jetzt aber als liberaler Modernisierer Frankreich erneuern will und Europa dazu.

Kurz: Ich bin Regierungschef, ich arbeite mit allen Politikern in Europa konstruktiv zusammen, ganz gleich, welcher Partei sie angehören. Ich schätze es sehr, dass Emmanuel Macron die EU reformieren möchte. Ich sehe ihn hier als wichtigen Partner, um in der EU die notwendigen Veränderungen zu erreichen. Und es ist für mich eine noch größere Selbstverständlichkeit, mit den Regierungschefs unserer Nachbarstaaten zusammenzuarbeiten, ganz gleich, welcher Partei sie angehören. Auch mein Vorgänger Christian Kern hat übrigens Viktor Orbán getroffen, und es wäre auch fahrlässig gewesen, wenn er es nicht getan hätte.

STANDARD: Weil es mit Ungarn einfach viele wechselseitige Themen gibt, auch Probleme?

Kurz: Wo kämen wir denn hin, wenn Regierungen nicht mehr mit anderen Regierungen in der Europäischen Union sprechen? Das wäre das Ende der Union, das Ende jeder Nachbarschaftspolitik.

STANDARD: Also verstehen wir Sie richtig, dass das erste Anliegen des Bundeskanzlers Kurz ist, mit allen in Europa in eine gleichwertig gute Beziehung zu kommen?

Kurz: Das war mein Ziel vom ersten Tag meiner Amtszeit an. Es geht darum, Österreich in der Europäischen Union zu vertreten und die Union zum Positiven mitzugestalten. Wenn man das ernst nimmt, und das tue ich, dann muss man sehr viel Zeit investieren, um eine gute Basis mit allen Playern sicherzustellen.

STANDARD: Was beim Orbán-Besuch aufgefallen ist, war, dass es eigentlich mehr gibt, was Wien und Budapest trennt, als was sie eint.

Kurz: Es wäre ja interessant, darüber ausführlicher zu berichten.

Von Koalitionspartner FPÖ erwartet der Kanzler die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit ohne Wenn und Aber. Jeder Politiker, der sich nicht abgrenze und sich etwas zu schulden kommen lasse, solle gehen.
Foto: Matthias Cremer

STANDARD: Warum sagt das die Regierung, warum sagen Sie das nicht deutlicher? Die größten Differenzen gibt es in nächster Zeit wohl beim EU-Budgetrahmen. Ungarn ist, so wie Polen, mit mehr als fünf Milliarden Euro einer der größten Nettoempfänger.

Kurz: Ich habe die Differenzen bei jeder sich bietenden Gelegenheit angesprochen. Die Frage ist, ob man sich bei der Berichterstattung mit Realitäten auseinandersetzt oder mit dem, was man gerne denken oder hören will.

STANDARD: Ein Regierungschef hat ja die Mittel und Möglichkeiten mitzuprägen, womit die Öffentlichkeit sich beschäftigt.

Kurz: Dann reden wir doch über die einzelnen Themen.

STANDARD: Wenn ich Sie bisher richtig verstanden habe, ist es unzutreffend, dass Sie sich Orbán politisch besonders nahe stehend sehen, oder, was auch gesagt wird, dass es Linie der Regierung sei, sich mit den vier Visegrád-Staaten zu verbünden.

Kurz: Man muss das jeweils über die verschiedenen Sachfragen betrachten. Österreich hat bei vielen verschiedenen Themen ganz andere Positionen als Ungarn. Wenn wir über Konzepte der europäischen Verteidigungspolitik reden, gibt es eine starke Nähe zu den anderen neutralen Staaten. Wenn wir über EU-Budgetpolitik sprechen, dann sind unsere Partner in der Union die Nettozahlerstaaten und nicht die Nettoempfänger.

STANDARD: Also Deutschland, Niederlande, Frankreich, und nicht Ungarn und Polen.

Kurz: Und wenn wir über Migrationspolitik sprechen, sind unsere Partner all jene, die dafür eintreten, die EU-Außengrenzen besser zu schützen.

STANDARD: Also in dem Fall auch Ungarn und Frankreich.

Kurz: So ist es. Wenn man differenzierter über die verschiedenen Themen sprechen würde, dann würde man rasch merken, dass es mit den Visegrád-Staaten einen starken gemeinsamen Willen gibt, die EU-Außengrenzen zu schützen. Das ist eine Linie, mit der ich vor einigen Jahren noch sehr allein war. Mittlerweile hat sich das geändert, inzwischen sehen das viele andere genauso, Emmanuel Macron zum Beispiel. Ein anderes Beispiel: Wenn wir über die Nutzung von Atomkraft reden, dann gibt es viele Unterschiede.

STANDARD: Zu Ungarn, wohl auch zu Frankreich. Aber es ist doch auch so, dass jedes Land in der EU schon eine gewisse Grundposition hat, wie es sich zur Integration in der Union verhält. Das ist dann in vielen Dingen ganz unabhängig von Parteipolitik, wer immer grad an der Macht ist. Österreich ist 1995 eingetreten als ein Land, das immer zu Kerneuropa gehören wollte, wir haben die Grenzkontrollen so früh wie möglich abgeschafft, den Euro eingeführt, sind jüngst der verstärkten Verteidigungskooperation beigetreten, wollten also immer möglichst viel Integration. Gilt das noch, will die Regierung diesen von Alois Mock und Franz Vranitzky geprägten Kurs weitergehen?

Kurz: Ja natürlich, deshalb habe ich mich zuletzt für die verstärkte gemeinsame Verteidigungspolitik eingesetzt. Aber wenn wir als Union erfolgreich sein wollen, müssen wir die Spannungen abbauen. Und da ist mein großes Ziel, dass wir Brückenbauer sind zwischen den unterschiedlichen Machtzentren, die es derzeit in der Union gibt. Nur wenn es gelingt, diese Spannungen abzubauen, wird die Europäische Union weiterhin geeint und erfolgreich sein können.

STANDARD: Was heißt das an konkreten Beispielen, wenn Sie in fünf Monaten für Österreich den EU-Ratsvorsitz übernehmen?

Kurz: Ich werde unseren Ratsvorsitz ganz bewusst nutzen, um Veränderungen in der Europäischen Union voranzutreiben, die ich für notwendig halte. Das ist zum Ersten ein Fokus auf mehr Subsidiarität. Ich glaube, dass die Fragestellung, ob es insgesamt mehr oder weniger Europa braucht, die falsche ist. Die Frage muss sein, in welchen Bereichen es mehr Europa braucht und in welchen Bereichen weniger. In den großen Fragen wie Sicherheits- und Verteidigungspolitik brauchen wir stärkere Zusammenarbeit. Gleichzeitig muss sich die Union aber in kleinen Fragen zurücknehmen, bei denen die Regionen oder die Staaten auf ihren jeweiligen Ebenen besser entscheiden können. Nur damit ist auch sichergestellt, dass die Bürokratie nicht ständig wächst.

STANDARD: Das ist alles sehr abstrakt, für einfache Bürger schwer zu verstehen. Nennen Sie ein konkretes Beispiel, wo das so sein soll.

Kurz: Es muss nicht immer eine vereinheitlichte Gesetzgebung über die ganze Union geben, nehmen Sie zum Beispiel die Sozialunion. Ich halte es für höchst unrealistisch, einheitliche Sozialleistungen in den EU-Staaten zu haben.

STANDARD: Immer wenn Politiker das Wort Subsidiarität in den Mund nehmen, muss man das kritisch hinterfragen, weil es oft nur als Tarnbegriff für EU-skeptische Haltung herhält. Strache spricht ja auch von Subsidiarität.

Kurz: Angela Merkel und Emmanuel Macron auch.

STANDARD: Mein Einwand ist, dass das Prinzip der Subsidiarität ja nicht neu ist. Das gibt es seit der Gründung der EWG, nämlich die Regeln, dass nur das in Brüssel geregelt wird, was dort besser geregelt werden kann als auf den unteren Ebenen der Länder und Regionen. Das wurde im EU-Vertrag von Amsterdam noch verstärkt.

Kurz: Es wird nur zu wenig gelebt.

STANDARD: Aber gerade die Kommission von Präsident Jean-Claude Juncker …

Kurz: ... versucht es, und geht in die richtige Richtung.

STANDARD: Also Juncker hat die Zahl der Gesetzesvorschläge und Einzelregelungen deutlich verringert im Vergleich zu José Manuel Barroso vor ihm.

Kurz: Gott sei Dank. Als ich mit Präsident Juncker gesprochen habe, habe ich das auch ganz groß positiv herausgestrichen, dass er mit der Kommission versucht, diesen Weg zu gehen. Ich halte es auch für sehr positiv, dass Präsident Juncker eine Task Force zur Subsidiarität eingesetzt hat, die bis zum Sommer Vorschläge vorlegen soll. Alles, was wir tun können, um diesen Weg zu unterstützen, um dabei erfolgreicher zu sein, sollten wir tun. Warum? Weil wir als Österreich eine Wirtschaft haben, in der die Klein- und Mittelbetriebe das Rückgrat bilden. Die tun sich wesentlich schwerer als große Konzerne, mit einer überbordenden Bürokratie umzugehen, weil sie sich nicht große Rechtsabteilungen leisten können.

STANDARD: Man muss aber schon dazusagen, dass die EU trotzdem in anderen Bereichen, Stichwort Eurozone, dringend mehr gemeinsame Regeln braucht und Sanktionen, damit diese eingehalten werden. Weil die Regeln viel zu locker waren, kam es ja zur Griechenland-Krise, zum Beispiel.

Kurz: Aber das widerspricht sich ja nicht. Subsidiarität beschreibt nicht den Unterschied von mehr oder weniger Europa. Es geht darum, dass wir Europa dort stärken, wo das notwendig ist, in Bereichen, bei denen wir mehr Zusammenarbeit brauchen, von der Verteidigungspolitik bis hin zur Digitalisierung zum Beispiel, wo wir als Europa noch starken Nachholbedarf haben.

STANDARD: Also da will Österreich möglichst viel Integration.

Kurz: Natürlich, man muss das von Themenfeld zu Themenfeld durchgehen. Es gibt Themen, wo bei der europäischen Bevölkerung zu Recht eine Enttäuschung entstanden ist. Wenn eine Union es nicht schafft, die Außengrenzen zu schützen, und wenn gleichzeitig Mitgliedsstaaten darauf drängen, dass es eine Allergenverordnung für alle geben muss und die Speisekarten geändert werden müssen, dann heißt das für mich, es gibt da einen falschen Fokus. Aber ich betone auch, es ist nicht immer die Schuld der Kommission, dass das so ist. Oftmals werden diese Themen von Mitgliedstaaten auf die europäische Ebene gehoben, ohne dass es notwendig wäre.

STANDARD: Stichwort EU-Reform, die unter österreichischem Vorsitz zentrales Thema sein wird. Kommissionspräsident Juncker, Christdemokrat wie Sie, kann mit dem Szenario vier, also ganz auf Subsidiarität zu setzen, wenig anfangen. Er meinte kürzlich, die Reform werde eine Kombination mehrerer Vorschläge werden, manche Staaten werden sich enger zu Kerneuropa zusammenschließen, andere nicht. Nur ein Stillstand oder die Vereinigten Staaten von Europa wäre unwahrscheinlich.

Kurz: Man muss kein Hellseher sein, um zu wissen, dass am Ende jede Reform durch 28 Staaten ein Kompromiss sein wird. Was mir Sorge macht, ist, dass derzeit mit einer etwas zu starken Emotionalität in verschiedene Richtungen gelaufen wird. Es braucht einen stärkeren Willen zu einem konstruktiven Miteinander, dann können auch Reformschritte gelingen. In vielen Positionen, auch bei der Subsidiarität, sind unterschiedliche Machtzentren in der Union gar nicht so weit auseinander. Das wird im Kern von Macron über Merkel bis hin zu Orbán unterstützt.

Während des Interviews bekam der Kanzler via iPhone die Meldung, dass der niederösterreichische FPÖ-Spitzenkandidat Udo Landbauer alle politischen Funktionen zurückgelegt hat.
Foto: Matthias Cremer

STANDARD: Welche Position wird Österreich einnehmen, bei welcher Gruppe wird man mitziehen? Macron und Merkel werden im März einen gemeinsamen deutsch-französischen Plan zur Vertiefung der Eurozone vorlegen. Ist Wien da dabei?

Kurz: Der Vorschlag ist noch nicht fertig. Es wäre nicht sonderlich angebracht, das jetzt schon zu kommentieren. Aber eines kann ich grundsätzlich schon jetzt sagen: Es wird auf den jeweiligen Bereich ankommen. Das war auch beim Gespräch mit Macron klar. Ich teile in vielen Bereichen seine Reformansätze für die Europäische Union. In manchen Fragen, wie zum Beispiel zum EU-Budget, sind wir den Niederlanden näher. Wir drängen, wie die Dänen auch, darauf, dass mit Mitteln der Steuerzahler sparsamer umgegangen werden muss, wenn die Union durch den Brexit kleiner wird und in Zeiten, wenn weniger Ressourcen zur Verfügung stehen.

STANDARD: Österreich hat schon beim letzten Mal, 2012, beim EU-Budgetrahmen eine restriktivere Haltung eingenommen, auf Sparen gedrängt, der laufende EU-Finanzrahmen ist knapp, liegt bei nur ein Prozent der Wirtschaftsleistung aller Staaten.

Kurz: Das ist ja nicht schlecht.

Standard: Das heißt aber, dass gemeinschaftliche Politik unter Druck kommt.

Kurz: Das stimmt nicht.

STANDARD: Man wusste damals zum Beispiel nicht, dass es zur Bewältigung der Migrationskrise viel Geld braucht, ab 2015 musste dann im Budget kräftig umgeschichtet werden, um Maßnahmen zu finanzieren.

Kurz: Das stimmt so nicht. Wenn das Ziel immer nur ist, mehr Geld auszugeben, dann braucht es keine Politiker mehr. Es ist leicht, jedes Problem mit dem Ruf nach mehr Steuergeld zu lösen. Ordentliche Politik heißt auch auszuwählen, wo man Steuergeld investiert. Ja, es gibt neue Herausforderungen – mit Investitionen in Afrika und vielem mehr. Aber vielleicht ist es genauso möglich, in der EU das eine oder andere Strukturprogramm zu beenden, das vielleicht nicht den erwünschten Erfolg erzielt hat in den letzten 15 Jahren und man schon weiß, dass das auch die nächsten 15 Jahre so sein wird.

STANDARD: Natürlich kann man immer etwas kürzen. Aber es ist doch so, dass die Union deutlich mehr Aufgaben bekommen hat. Die Erweiterung kostet Geld, und Österreich tritt zum Beispiel sehr stark für die Erweiterung am Balkan ein. Bis 2025 könnte das stattfinden. Dafür braucht man ein Budget, nicht?

Kurz: Und es gibt viele andere Bereiche, die man hinterfragen kann. Wir haben derzeit die Situation, dass sehr viel Geld in die osteuropäischen Staaten fließt, und viele von diesen Staaten sind gar nicht wirklich zufrieden. Es wird teilweise infrage gestellt, ob das Geld überhaupt bei den Richtigen ankommt, gleichzeitig wird in Westeuropa geklagt, wie antieuropäisch diese Staaten denn seien. Da muss irgendwie der Knopf drin sein. Wir haben vor, in den nächsten Jahren hunderte Millionen an Annäherungsunterstützung in die Türkei zu überweisen, obwohl in der Türkei Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Man muss den Mut haben, so etwas infrage zu stellen.

STANDARD: Das muss also alles auf den Prüfstand kommen bei den Verhandlungen zum EU-Budgetrahmen unter österreichischem Vorsitz?

Kurz: Die Alternative wäre, man verlangt einfach mehr Geld. Aber das ist nicht mein Weg.

STANDARD: Das heißt aber, Polen und Ungarn, die größten Nettoempfänger, müssen damit rechnen, deutlich gekürzt werden?

Kurz: Auch wenn das manchen vielleicht nicht gefällt, in diesem Punkt gibt es eine starke Meinungsverschiedenheit zwischen Viktor Orbán und mir.

STANDARD: Also wird Orbán mit starken Kürzungen rechnen müssen? Was sagt er dazu?

Kurz: Am Ende wird das nicht meine Entscheidung allein sein. Aber, ich bin mit Premierminister Rutte und einigen anderen in der Gruppe derer, die darauf drängen werden, dass sparsamer mit dem Geld der europäischen Steuerzahler umgegangen wird. Und wir werden sicher bei den Verhandlungen zum EU-Budgetrahmen stark die Position der Nettozahler vertreten.

STANDARD: Wird man damit auch den Druck auf Orbán oder die polnische Regierung erhöhen, die oft antieuropäische und unsolidarische Positionen vertreten, oder rechnet Orbán damit, dass Ungarn weiter gut fünf Milliarden Euro netto bekommt und gleichzeitig unsolidarisch in Migrationsfragen bleibt?

Kurz: Dass Nettoempfänger einen anderen Blick auf die Zahlungen haben als Nettozahler, das wird nicht überraschen. Natürlich haben wir über dieses Thema gesprochen.

STANDARD: Ist er bereit, etwas moderater aufzutreten?

Kurz: Das müssen Sie ihn selbst fragen.

STANDARD: Einen anderen entscheidenden Themenbereich während des österreichischen EU-Vorsitzes werden Migration, Asyl, Schengen und Grenzsicherung ausmachen. Die EU-Innenminister haben in Sofia gerade die verpflichtenden EU-Verteilungsquoten zwar nach hinten gereiht, aber es soll ein dichtes Paket von Regelungen geben, das bei Migration und Asyl zu mehr Gemeinschaftspolitik führen würde. Die FPÖ setzt ganz auf Restriktion. Was streben Sie an?

Kurz: Die Lösung der Migrationsfrage wird einzig und allein gelingen, wenn wir in der Lage sind, unsere Außengrenzen zu schützen. Mit der Verteilung in Europa allein lässt sich das nicht lösen. Das war immer meine Position. Das hat sich nicht verändert und wird sich auch nicht ändern. Das Gute ist, dass der Großteil der Staats- und Regierungschefs diesbezüglich inzwischen meine Position eingenommen hat.

STANDARD: Beim EU-Außengrenzschutz, bei den Hilfen für Afrika, da ist man sich einig, aber das eigentliche Problem bleibt die Solidarität bei Migrations- und Asylpolitik im Inneren. Wer nimmt wen, gibt es abgestimmte Regeln, wer zahlt wofür? Wo kommt man da weiter?

Kurz: Langfristig gesehen kann es nicht sein, dass die Asylverfahren in Europa stattfinden und dass die Schlepper entscheiden, wer nach Europa durchkommt und wer nicht. Wenn wir ein System schaffen, dass Menschen innerhalb der Union legal verteilt werden, aber der einzige Weg, um nach Europa zu kommen bleiben die Schlepper, dann haben wir weder der EU noch den Menschen, die verfolgt und in Not sind, einen Gefallen getan. Dagegen werde ich weiter ankämpfen, weil ich überzeugt davon bin.

STANDARD: Aber es ist Realität, dass Menschen wie auch immer nach Europa kommen. Wie versorgt man sie?

Kurz: Man sollte sie in Asylzentren außerhalb der Union versorgen, eine Aufgabe, die wir gemeinschaftlich zu erfüllen haben, personell, aber auch finanziell. Solange das System aufrecht bleibt, dass diejenigen, die den Weg eines Schleppers wählen und auf illegalem Weg in Europa ankommen und versorgt werden, aber die anderen, die in ihren Herkunftsländern bleiben, ohne Unterstützung zu erhalten, solange dieses System aufrecht bleibt, werden sich immer Menschen illegal auf den Weg machen. Die Schlepper werden Unsummen verdienen, und es werden jedes Jahr tausende Menschen auf dem Weg nach Europa sterben. Das kann nicht der richtige Weg sein. Andere Länder gehen diesen Weg bewusst nicht, von Kanada über die USA bis Australien wird anders gehandelt. Es würde der europäischen Politik gut anstehen, hier von anderen zu lernen und sich moralisch nicht überlegen zu fühlen, wenn man bisher einen falschen und auch nicht sonderlich menschlichen Weg gegangen ist.

STANDARD: Es gibt aber doch Realitäten, und dann muss man humanitär handeln. Lässt es Sie völlig kalt, wenn zum Beispiel ganze Familien mit Kindern, die in Schulen schon gut integriert sind, aus Österreich abgeschoben werden, so wie vergangene Woche erst wieder geschehen?

Kurz: Das lässt mich überhaupt nicht kalt, ganz im Gegenteil. Ich halte das für dramatisch. Aber es ist Ergebnis einer falschen Asylpolitik, bei der Schlepper entscheiden, wer nach Europa kommt, und Asylverfahren dann in Europa stattfinden und jahrelang dauern. Das ist der falsche Weg.

STANDARD: Bis Mitte 2019, nach den EU-Wahlen, wird es zu einer Art politischer Neuordnung in Europa kommen. Großbritannien tritt aus, die Wahlen bringen neue Machtverhältnisse in EU-Institutionen. Wie sehen Sie dem entgegen?

Kurz: Mit einem lachenden Auge und einem weinenden. Mit einem weinenden, da wir mit Großbritannien ein wichtiges Mitgliedsland verlieren, das in die Debatten in der EU oftmals den notwendigen pragmatischen Ansatz hineingebracht hat. Mit einem lachenden, weil wir den Brexit zum Anlass nehmen müssen, in der EU die erforderlichen Veränderungen auf den Weg zu bringen. Die Europäische Union hat es in den vergangenen Jahren nicht geschafft, die Migrationskrise gemeinsam zu lösen. Mit dem Brexit gibt es erstmals die Situation, dass ein Land aus der EU austritt. Bisher waren wir immer nur mit Beitritten konfrontiert. Nun ist es notwendig und auch möglich, gemeinsame Lösungen zu finden, um damit die nötige Energie und Kraft für Veränderungen zu entwickeln. Ich bin fest davon überzeugt, dass es möglich sein wird, den Brexit ordentlich abzuwickeln, auch wenn ich es mir gewünscht hätte, dass Großbritannien Mitglied bleibt. Das wird uns als EU-27 die nötige Kraft geben zu Veränderungen in der Gemeinschaft.

Das Kanzlerbüro ist spärlich ausgestattet. An der Wand mit den historischen Holzvertäfelungen ein Stehschreibtisch, in der Mitte ein Besprechungstisch, beim Eingang eine Sitzgruppe.
Foto: Matthias Cremer

STANDARD: Heißt das, es wird noch heuer, unter österreichischem Vorsitz, ein Migrationspaket geben?

Kurz: Wenn ich mir anschaue, wie sich die Meinung dazu in den letzten Jahren gedreht hat, bin ich der Ansicht, dass wir eine Lösung zustande bringen werden. Eine Garantie, dass das noch heuer stattfinden wird, kann ich aber nicht geben.

STANDARD: Besteht beim Brexit die Gefahr, dass man ein nur sehr allgemeines Abkommen abschließt, das Land 2019 austritt und man erst dann, in den zwei Jahren Übergangszeit, beginnen muss, mühsam die Details des Austritts neu zu regeln?

Kurz: Der Brexit wird eine enorme Herausforderung werden. In den letzten Wochen ist es trotzdem gelungen, für einige wichtige Fragen – wie die Bürgerrechte von EU-Bürgern – Lösungen zu finden. Es führt kein Weg daran vorbei, dass alles der Reihe nach abgearbeitet wird. Großbritannien wird es danach nicht besser gehen, der Union auch nicht. Aber die Entscheidung ist gefallen. Jetzt ist es die Pflicht aller Beteiligten, den Schaden möglichst einzudämmen.

STANDARD: Bei der EU-Wahl im Frühjahr 2019 wird es auch darum gehen, wie es mit ihrem Koalitionspartner FPÖ im EU-Parlament weitergeht. Generalsekretär Vilimsky hat im STANDARD angekündigt, dass seine Partei nicht daran denkt, aus der umstrittenen EU-skeptischen Rechtsfraktion von Marine Le Pen auszutreten. Er will sich im Gegenteil bemühen, nun eine noch stärkere, konservative und EU-kritische Fraktion aufzustellen. Das geht voll gegen ihre Parteifreunde der EVP. Wie sehen Sie das?

Kurz: Ich bin auch in dieser Frage kein ängstlicher Mensch. Wir haben im vergangenen Oktober die Nationalratswahlen gewonnen, in Niederösterreich die absolute Mehrheit gehalten. Und ich bin, was die Europawahlen betrifft, sehr optimistisch. Es ist sogar gut, wenn es im Rahmen von Wahlen auch zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Europa kommen wird. Das Schlimmste, was der Union passieren kann, ist, wenn sie die Nähe zu den Bürgern verliert und niemand darüber spricht.

STANDARD: Beim EU-Gipfel im Februar, Ihrem ersten, soll entschieden werden, ob es wieder das System von gemeinsamen Spitzenkandidaten der jeweiligen Parteifamilien gibt, der Sieger wird dann EU-Kommissionspräsident. In Ihrer Partei gilt Brexit-Verhandler Michel Barnier als Favorit. Sind sie dafür?

Kurz: Ja, man soll es beibehalten. Mit allen Politikern der EVP, mit denen ich spreche, spreche ich auch über dieses Thema. Aber bevor ich mich für einen der Kandidaten starkmache, möchte ich das intern besprechen.

STANDARD: Zu Österreich. Vilimsky hat den ÖVP-Delegationschef Othmar Karas frontal angegriffen, behauptet, dass dieser frontal gegen die EU-Linie der ÖVP stehe und er nicht mehr aufgestellt werde, wenn Sie sich durchsetzten. Wie sieht es da aus?

Kurz: Ich möchte das nicht näher kommentieren. Othmar Karas ist einer meiner Vorvorgänger als Chef der Jungen Volkspartei, er ist unser Delegationsleiter und genießt mein Vertrauen. Wir arbeiten gut zusammen.

STANDARD: Wird er Spitzenkandidat der ÖVP sein?

Kurz: Er genießt mein Vertrauen, aber die Liste werden wir erst kurz vor der Wahl präsentieren. (Thomas Mayer, 2.2.2018)