Die aktuelle Diskussion um antisemitisches Liedgut trage Züge einer "Menschenhatz", sagt Dieter Derntl, "Alter Herr" der Libertas – und bewirbt seine Burschenschaft als Schule der Demokratie.

Wien – Das Antlitz des Obmanns passt nicht so recht zur Galerie der Altvorderen. Tiefe Narben durchfurchen so manches Gesicht, das hinter Glas an der Wand hängt. Doch die Wangen Dieter Derntls sind glatt wie ein Babypopo. Er habe schon auch Schmisse, sagt Derntl und greift sich ans ergraute Haupthaar. Aber weil er nie verunstaltet durchs Leben rennen wollte, habe er die Kunst des Fechtens eben besonders eifrig trainiert – und Treffer an sichtbarer Stelle vermieden: "Ohne falsche Bescheidenheit darf ich sagen: Ich war gut."

Bundesbrüder, die Narben als Ehrenzeichen zur Schau stellen oder sogar die Heilung hintertreiben, indem sie Rosshaare einnähen: Das möge es im 19. Jahrhundert gegeben haben, sagt Derntl, heutzutage hingegen seien solche Storys "Humbug" – leider nicht der einzige, der über seinesgleichen verzapft werde. Der 57-Jährige gehört einer verschworenen Gemeinschaft an, die dieser Tage schlechte Presse hat. Im Schlepptau der FPÖ haben sich deutschnationale Burschenschafter wie er in Ministerien und anderen Machtzentren breitgemacht. Seither reißen die Berichte nicht ab, die den alten Studentenverbindungen, die Namen wie Teutonia, Germania oder Olympia tragen, antisemitische und rechtsextreme Anwandlungen bescheinigen.

Nur wenige Korporierte stellen sich öffentlich der Kritik. Der STANDARD hat bei etlichen Wiener Verbindungen angefragt, Einlass fand er nur in einem Biedermeierhaus am Spittelberg. Die akademische Burschenschaft Libertas residiert hier seit Zeiten, als das Grätzel noch "Hurenviertel" (Derntl) und nicht grünaffines Bobo-Dorado war. Der versteckte Seiteneingang mit Spion in der Tür erinnert bis heute an ein Rotlichtetablissement, die mit Gusseisenlustern und Holzvertäfelungen verdüsterten Vereinsräume im ersten Stock versprühen das Odeur noch länger vergangener Tage. Ob auf Säbeln, Banderolen oder Deckeln, wie die in den Couleurkasten geschlichteten Burschenschafterkappen genannt werden: Allerorts stechen die Farben Schwarz, Rot und Gold ins Auge.

60 Mitglieder zählt die Libertas, doch nur acht zählen zur Aktivitas, den Studenten, der Rest sind Alte Herren. Die Mensur, das bei schlagenden Verbindungen übliche Fechten, bleibt den Jungen vorenthalten, pro Woche ist dreimal Training Pflicht – eine unschätzbare Übung, um sich selbst in einer Extremsituation kennenzulernen, wie Derntl sagt. Vor allem aber, wirbt der Oberliberte, sei der Lebensbund unter deutschen Farben eine Schule der Demokratie. Schließlich hätten die Burschenschaften, die im 19. Jahrhundert gegen die Monarchie kämpften, den Anspruch gehabt, demokratische Tugenden im Kleinen vorzuleben – und das geschehe heute genauso.

Die Demokratie im Hintertreffen

Ein Blick in Geschichtsbücher offenbart freilich auch andere Traditionen. Demokratische Strömungen gerieten seinerzeit rasch ins Hintertreffen, ist dort zu lesen, aggressiver Nationalismus und Antisemitismus griffen um sich. Just die Libertas schwang sich 1878 zur ersten Burschenschaft der Monarchie auf, die mit einer Art Arierparagraf Juden ausschloss.

Wer einen Rundgang durch die Bude am Spittelberg unternimmt, dem kann sich schon der Eindruck aufdrängen, dass die Libertas dieses Erbe nicht restlos entsorgt hat. Inmitten der Porträts verblichener Burschenschafter, gegenüber einem Säbelarrangement mit dem Wahlspruch "Zeig dem Feind, dass wir treu zusammenstehen" findet sich das Konterfei eines bärtigen Verbindungsveteranen: Georg Ritter von Schönerer war nicht nur Liberte, sondern auch Agitator des radikalen Antisemitismus und, nach Hannah Arendt, "geistiger Vater Adolf Hitlers".

Allerorts stechen die Farben Schwarz, Rot und Gold ins Auge
Foto: Christian Fischer

Warum sich erklärte Demokraten im 21. Jahrhundert so jemanden an die Wand hängen? Mit Ehrerbietung habe das nichts tun, versichert Derntl, "das ist nichts als Zufall". Um nicht auf weiße Wände zu starren, habe man wahllos alle möglichen Porträts aus dem eigenen Fundus hervorgekramt: "Seitdem ist das die heilige Bilderordnung."

Keine Ahnung habe er von der Vorgeschichte gehabt, als er im 91er-Jahr als Wirtschaftsstudent zum Männerbund stieß, erzählt Derntl, erst in den Schulungsstunden für die Füxe – wie die Neo-Burschen genannt werden – seien ihm die Augen geöffnet worden. An der antisemitischen Vergangenheit gebe es nichts zu leugnen, sagt er, widerspricht aber der etwa vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes vertretenen Einschätzung, wonach Burschenschaften ein besonders fruchtbarer Nährboden waren und fallweise sind. Antisemitismus habe sich durch alle Schichten gezogen und dort mitunter auch bis in die Nachkriegszeit überlebt. Doch für eines könne er die Hand ins Feuer legen: "Auch unter 4000 Burschenschaftern in ganz Österreich werden sich einige Naturtrottel finden. Aber bei der Libertas gibt es keinen Einzigen, der irgendwie in Richtung Nationalsozialismus tendiert."

Kontakte zu Neonazis

Dass es nie zu Berührungen mit derartigen Kreisen komme, will der Libertas-Wortführer nicht behaupten, doch die liefen einseitig ab. Immer wieder komme es vor, dass Neonazis Burschenschaften für Verbündete hielten, erzählt Derntl, heute Steuerberater im Brotberuf, und erinnert sich an die Achtziger, als er sich beim Ring Freiheitlicher Studenten (RFS) engagierte: "Damals habe ich Gottfried Küssel getroffen, ohne ihn angerufen zu haben." Kurze Nachdenkpause, dann ein Nachsatz: Okay, der RFS habe solche Leute, die ja eindeutig gewaltbereit gewesen seien, schon auch als Saalschutz eingesetzt. "Aber bei unseren Veranstaltungen sind damals auch Gegner mit Motorradhelm und Baseballschläger aufmarschiert."

Weniger lang her ist es allerdings, da hat die Libertas ganz von sich aus den Kontakt zu einschlägigen Aktivisten geknüpft. Vor rund zehn Jahren verlieh die Burschenschaft ihren hauseigenen Förderpreis dem sogenannten Bund Freier Jugend, der vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft wurde und laut Gutachten des Verfassungsjuristen Heinz Mayer nationalsozialistische Ideen verherrlichte. "Ein Alter Herr hat uns die Gruppe empfohlen, wir haben nicht nachgeprüft", erklärt Derntl: "Das hat sich nachträglich als Fehler entpuppt. Jeder kann einmal danebenhauen."

Kein Eingeständnis eines Irrtums kam damals jedoch dem derzeit prominentesten Politiker in den Reihen der Libertas über die Lippen. Walter Rosenkranz, heute FPÖ-Chef in Niederösterreich und Klubobmann im Nationalrat, wertete Kritik an der Preisvergabe als "reine Diffamierung".

Gewisse Fragen wirft auch eine Aussage auf, mit der sich ein anderer prominenter Bundesbruder verewigt hat. Es sei "ein Armutszeugnis" für die Demokratie, "den Glauben an mehr als 60 Jahre zurückliegende Verbrechen vorzuschreiben", sagte der mittlerweile verstorbene Hans Achatz, einst Chef der FPÖ in Oberösterreich, bei einer Burschenschafterfeier: "Die Wahrheit bedarf nicht des Kerkers." Wird da nicht mehr oder minder deutlich die Existenz dieser Verbrechen – gemeint ist der Holocaust – bestritten? Das sei Achatz sicher ferngelegen, erwidert Derntl. Er lese bloß einen Aufruf gegen Diskussionsverbote heraus: "In der wissenschaftlichen Debatte darf es kaum Grenzen geben."

Weniger "Hysterie" wünscht sich Derntl, sieht die seinen als Opfer von Vorurteilen.
Foto: Christian Fischer

Und die jüngste Causa prima? Geschieht Burschenschaftern da ebenfalls Unrecht? Von "Vorverurteilung" und "Aufbauschung" spricht Derntl, als es um das berüchtigte Liederbuch der Germania zu Wiener Neustadt geht. Sicher, eine Strophe in der "der Jude Ben Gurion" die "alten Germanen" auffordert, auch noch die "siebte Million" zu "schaffen", habe nirgends etwas verloren – ob man diese nun "deppert, verunglückt oder antisemitisch" nennen wolle. Doch die Passage sei so absurd, "dass ich sie nicht einmal als Hetze verstehe", sagt er und deutet sie als Spott darauf, dass nach dem Krieg über die Zahl der ermordeten Juden wild gefeilscht worden sei.

Als gebürtiger Neustädter ist Derntl selbst Mitglied der nun geächteten Germania, war "aber nur mehr zweimal im Jahr dort". Das Buch habe er gekannt, ohne die Textstelle registriert zu haben. Soweit er wisse, sei diese aber ohnehin bald nach der Auflage anno 1997 in den auf der Bude verwendeten Büchern ungut aufgefallen und deshalb gestrichen worden: Dass der FPÖ-Politiker und Ex-Germane Udo Landbauer deshalb seine politische Karriere ad acta legen soll, "fällt in die Nähe von Menschenhatz".

Absage an Arierparagraf

Weniger "Hysterie" wünscht sich Derntl, sieht die seinen als Opfer von Vorurteilen. Ja, die Liberten empfänden sich als deutschnational, zumal sie die Nation nicht an den Staatsgrenzen festmachten, sondern an gemeinsamer Kultur und Geschichte. Trotzdem propagiere niemand ein Großdeutschland: "Wir haben ein ungebrochenes Verhältnis zum Staat Österreich. Das erkennt man schon daran, dass der Wehrdienst für unsere Mitglieder Pflicht ist."

Ausdauernd und kontrolliert hat Derntl Rede und Antwort gestanden.
Foto: Christian Fischer

Ausdauernd und kontrolliert hat Derntl Rede und Antwort gestanden, nach eineinhalb Stunden schenkt er sich am budeneigenen Zapfhahn ein zweites Seiterl ein – und lässt doch noch Emotionen durchblitzen. "Vielleicht spüre ich das Bier, ich verwende jetzt andere Worte", sagt er, als die Frage im Raum steht, ob auch Juden und Zuwanderer Burschenschafter werden können. Andere Liberten haben in der Vergangenheit eine Abkehr vom Abstammungsprinzip als Verrat gebrandmarkt, doch Derntl äußert da eine Gegenmeinung. So etwas wie ein Arierparagraf sei dumm, sagt er: "Und wenn – entschuldigen Sie den Ausdruck – ein Bantu-Neger kommt und sich als begeisterter Deutscher zeigt: Warum soll ich den ausschließen? Mir ist es scheißegal, welche Gene der hat." (Gerald John, 3.2.2018)