Clemens J. Setz, "Bot. Gespräch ohne Autor". Hg. v. Angelika Klammer. € 20,60 / 180 S., Suhrkamp, Berlin 2018

Suhrkamp

Bei einem anderen würde man, ohne einen weiteren einfältigen Gedanken darauf zu verwenden, von einem Fehler ausgehen. Man könnte einander "am Freitag (1. 2.)" treffen, schlägt Clemens J. Setz, angefragt um ein Interview, vor. Da wäre er in Wien und hätte nachmittags Zeit. Jener Freitag war heuer allerdings der 2. 2. Also: Ob Setz etwas im Schilde führt? Oder einen zweiten Kalender mit alternativen Daten? Ist es bloß ein kleiner Irrtum, oder könnte es doch eine dieser Irritationen sein, die der Schriftsteller in seinen Büchern so gern hat? Und deretwegen ihn die Leser so gern haben?

Auf der Straße oder im Internet – Clemens J. Setz entdeckt überall Außergewöhnliches. In seinen Büchern teilt er diesen Blick auf die Welt mit seinen Lesern.
Foto: Heribert Corn

Lifehack, Glitch oder Thomasson heißen die Sinnverstöße, Realitätsverschiebungen, Funktionsverwirrungen, Rätsel und Unsinnigkeiten in seinen Geschichten sonst in der Terminologie des Nerdsprech. Setz lässt die bekannte Welt flackern und flirren. Diese fantastische Fülle hat den Grazer – 1982 als Sohn eines Ingenieurs und einer Ärztin geboren – rasant berühmt gemacht. Bereits beim Erscheinen seines Romanerstlings Söhne und Planeten 2007 wurde Setz als Wunderkind gefeiert. Da war er Mitte 20. Nach Erfolgen en suite wie Die Frequenzen (2009), Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes (2011), Indigo (2012) und 2015 dem Tausendseiter Die Stunde zwischen Frau und Gitarre zählt er zu den spannendsten Autoren des Betriebs.

Und dann sitzt Setz einem wenige Tage nach dem Mailwechsel in einem Wiener Café gegenüber. Ganz normal am Freitag, dem 2. 2.

Zwei stille Wasser

Obwohl er während des ganzen Treffens nicht aus dem dunklen Wintermantel schlüpft, strahlt Setz Ruhe aus. Ein stilles Wasser reicht ihm als Verköstigung für zwei Stunden. Ob man noch etwas bestellen soll? "Nein, nein, ich bin zufrieden mit meinem Wasser", winkt er nach fast der Hälfte der Zeit ab, obwohl die kleine Flasche auf dem Tisch bereits fast leer ist.

Anlass für das Treffen ist sein neues Buch Bot, das am Montag erscheint. Dessen Vorwort wirkt wie eine Warnung: "Nachdem wir uns getroffen hatten, erwies es sich, dass mit meinen transkribierten Antworten wenig anzufangen war. Stellen Sie sich vor, jemand redet einfach irgendwas, seitenlang. Man muss das eben können, das mündliche Erzählen", schreibt Setz über den Versuch, sich für die 170 Seiten ausfragen zu lassen. Sie wurden also ein Gespräch ohne Autor, so der Untertitel. Was das ist, dazu später.

Erst die brennende Frage: War es also eine schlechte Idee, ihn um ein Interview zu bitten? "Da ist ein Unterschied", beruhigt Setz. "Interviews mit Journalisten zu einem Buch etwa sind relativ kurz und voll technischer Fragen: Wie kommt man auf so etwas? Das kann man relativ klar herleiten. Aber je allgemeiner es wird, desto ratloser bin ich. Etwa: Was ist Religion für Sie? Ich kann auch nicht biografisch erzählen, weil ich kein Leben habe, das man nacherzählen kann. Ich kann nur Dinge sagen, die entschuldigend klingen, wie: 'Ja, ich weiß nicht so genau ...'"

Wie der Verlag dann auf die Idee gekommen sei, so ein Gesprächsband mit ihm täte not? Er war eh dagegen, aber man habe ihn beruhigt und gemeint, es solle keinesfalls angeberisch oder dichterisch staatstragend wirken. Also hat er es probiert. Angeberisch zu sein, der Eindruck liegt bei Setz tatsächlich fern. Aber eigentlich wisse er den Grund nicht. "Ich glaube, daher war es mir auch unmöglich, dieses Interview zu machen."

Foto:Heribert Corn

Eine im Vergleich nebensächliche Frage liegt einem aufgrund der Offensichtlichkeit ihres Anlasses ebenso von Anfang an schon auf den Lippen. Der halslange Bart am Kinn des feingliedrigen Körpers sei aus Faulheit und Neugierde gewachsen, antwortet er. "Ich wollte wissen, wie's aussieht. Und jetzt gefällt's mir." Er sei zudem warm, und das sei angenehm, wenn er im Winter laufen gehe. Vorerst lässt er ihn zudem noch dran, damit er dem Foto auf seinem Arbeitsvisum ähnlich sieht, wenn er bald in die USA fährt, um dort für zwei Wochen an einer Uni zu lehren.

Er ist also kein Statement vergleichbar einer neuen Frisur nach einer Trennung von einem Partner. In einer Art Umbruch steckt der 35-Jährige trotzdem.

Verwandelt hat er sich, auch wenn er zuerst meint, er habe das noch nie, doch zumindest einmal. Kurz, aber schwierig sei das gewesen. Als Jugendlicher habe er nicht viele Freunde gehabt, "das klingt hinterher immer nach einer traurigen Geschichte, aber ich habe es gar nicht als schrecklich empfunden. Es war logisch, dass man in drei Jahren einmal für kurze Zeit einen Freund hat, und den sieht man dann nie wieder. Ich hab das gar nicht so vermisst."

Heute hat er Freunde und ein Sozialleben, "aber das hab ich erst als Erwachsener gelernt". Während der Zeit als Zivildiener in Pflegeeinrichtungen, Internaten, Wohnheimen habe er sich verändert. Statt Death-Metal hörte er plötzlich Jazz und Debussy. "Ich wurde ganz ein anderer Mensch."

Doch gehen wir wieder ein paar Jahre zurück. Mit 16 Jahren war der Außenseiter Setz süchtig nach Computerspielen. Als er davon schwere Migräne bekam, fing er an zu lesen, etwa Ernst Jandl. Man sehe seinen Büchern das Herkunftsland Österreich nicht an, sagt Setz. Aber gefragt, ob er sich als österreichischer Autor empfinde, sind es Jandl, H. C. Artmann oder Konrad Bayer, wo er sich "zu Hause" fühlt. Setz wurde zum Leser und danach zum Schreiber. Denn lesen, ohne zu schreiben, sagt er oft, sei wie geküsst zu werden, ohne selbst küssen zu dürfen.

Ein leerer Brunnen

Die Küsse klappen inzwischen aber offenbar nicht mehr so gut. "Früher war ich zufrieden mit vielem, was ich gemacht habe. Aber heute lehne ich das meiste ab. Ich merke, dass ich jetzt auch langsamer schreibe, einfach weil mir alles so schlecht vorkommt. Mir gefällt nichts mehr, was ich mache", erzählt er. Woran diese Unzufriedenheit liege? Da gebe es eine simple Antwort. "Ich hab einfach immer dieselben Dinge geschrieben. Und dieser Brunnen ist leer. Man kann nicht immer wieder dieselben Geschichten von Menschen schreiben, die irgendwelche fürchterlichen und brutalen Dinge machen, über Sexualität oder über Situationen, die ständig irgendwie entgleisen."

Das gehe einfach nicht. Er müsse nun etwas Neues finden. "Darum ist jetzt länger nichts erschienen. Ich glaube aber nicht, dass das so schwer und ausweglos ist, wie es vielleicht klingt." Immerhin komme das häufig vor. "Ich glaube, darum zerfallen Biografien von Künstlern so oft in Phasen: Irgendwann war ihnen langweilig, und sie haben sich verwandeln müssen. Manchmal hören sie dann auch wirklich auf, das gibt's, und ich finde diese Fälle interessant, aber sie sind eher selten."

Da kommt wieder Bot ins Spiel. Dass dieses Buch gar nicht den früheren gleicht, findet Setz, der diesmal quasi Autor um eine Ecke ist, ganz angenehm.

Zugrunde liegen ihm nämlich seine Journale. So nennt er die Einträge in einer bereits sehr langen Worddatei, in der er seit Jahren Beobachtungen in kurzen Texten festhält. Nachdem das ursprünglich geplante Gespräch mit Angelika Klammer nicht geklappt habe, habe man diese Datei per Volltextsuchfunktion am Computer einfach nach Reizworten aus ihren Fragen gescannt und ihnen je einen so "zufällig" gefundenen Text als Antwort zugeordnet.

Dass der Name der Frau, deren Fragen nun dramaturgisch diese einst losen Textbrocken verbinden, selbst wie ein fantastischer Kniff von Setz wirkt, ist wie eines dieser leuchtenden Details, die er in seine Texte streut und die im Leser lange hängenbleiben: So absurde, kühne oder auch kluge Wendungen oder Überlegungen, dass man nicht anders kann, als ihnen zu verfallen. Auch jetzt kommen solche aus Setz heraus. Ihm selbst können bereits manche Worte ganz spezielle Freude bereiten. Während des Gesprächs etwa Griesgram und Tunichtgut. Letzteres "klingt nämlich so höflich".

Ob ihn das viele Fotografiertwerden nicht nerve, fragte der Fotograf den Autor. So viel werde er ja gar nicht fotografiert und interviewt, meinte Setz.
Foto: Heribert Corn

Setz' besondere Beziehung zu Worten rührt auch von seiner Synästhesie her. Die hatte er schon als kleines Kind. So sei für ihn etwa der Donnerstag ganz klar ein Wagenrad und die Tonart C-Dur erscheint ihm grasgrün. Dass er seinen zweiten Vornamen Johann konsequent als "J." auf den Buchdeckeln führt, liegt auch daran: Sein Name sei mit den ganzen e sonst "sehr farblos, beige, hässlich. Das J hat aber etwas Erdiges."

Ob ihm ein Sinn für das Surreale in die Wiege gelegt ist? Daneben leidet er ja auch noch an Tinnitus ...? Der sei weg, sagt er. Seit er sich nicht mehr fleischlos, doch vernünftiger und frischer ernährt, sind sechs chronische Leiden, die er schon für Gegebenheiten genommen hat, binnen weniger Wochen verschwunden. Darunter eine Arthrose in der Schulter, Migräne und Gesichtsfeldausfälle. Das könne man ja in eine Fußnote zum Artikel packen.

Zurück also zu Bot. Er schreibe wohl jeden Tag hinein, meint Setz über das nun angezapfte Reservoir. Wobei manche Passagen bereits Eingang in frühere Bücher gefunden haben. "Aber ich setze mich nicht hin und überlege, was war heute los, sondern es sind konkrete Anlässe, die passieren oder mir auffallen und die diese Miniessays ergeben."

Gerade hat er zum Beispiel im Internet vom Vogel Nigel gelesen, der in Neuseeland gestorben ist. Dort habe man versucht, mit Tölpelfiguren aus Beton eine größere Zahl jener Vögel anzulocken. Nigel war aber lange der Einzige, der kam. "Ich glaube, in mir ist etwas, das sehr immun gegen Trost ist. Man hat im Leben vermutlich zu viel versucht, mich zu trösten. Irgendwann meint man dann, jeden Trost zu durchschauen. Aber langsam bin ich wieder offener für Trost", meint Setz über Trauriges.

So spärlich weitere Tölpel folgten, so zahlreich kamen Touristen. "Was ist dieses Hinpilgern zum einsamsten Vogel für ein bizarrer Vorgang? Und zugleich ist er total nachvollziehbar", sagt Setz. "Warum hatte er die Betonweibchen lieber als die später noch vereinzelt erscheinenden realen, was ist da passiert?" Er teilte den Artikel vom Vogeltod auf Twitter. Dort kommentierte er jüngst auch Elon Musks Rakete ins All.

Foto: Heribert Corn

Setz interessiert sich für vieles. Etwas errege seine Aufmerksamkeit, wenn er endlos an Details herumdenken könne. "Das ist, was mein Gehirn einfach von selbst macht, und das merke ich und kann es benutzen." Dann schreibt er es auf. In Bot findet sich eine nicht weniger kuriose Passage über eine Ziegenpopulation auf den Galapagosinseln. "Ich glaube, man sollte das machen, was automatisch geht. Sonst ist es mühsam, und man wird verzweifelt, unzufrieden, irgendwie leer." Zwingen müsse er sich zu anderem wie dem Haushalt oder aufmerksamer mit Mitmenschen zu sein.

Als er 2015 am Wiener Hauptbahnhof geholfen habe, die ankommenden Flüchtlinge zu versorgen, habe er etwa erst gedacht, man werfe da jetzt einfach Hilfspakete ab. Dann hat er erst gelernt, dass man mit diesen Menschen auch kommunizieren müsse.

Ihm selbst wird viel Aufmerksamkeit zuteil. Im Gegensatz zu den meisten Kollegen konnte Setz schnell vom Schreiben leben. Nicht von Buchverkäufen, aber von Dingen, die drumherum passieren: Lesungen, Preise, Auftragsarbeiten. Schon mit dem zweiten Roman wurde er für den Deutschen Buchpreis nominiert. Ein Haken sei, wenn man früh Erfolg bei den Lesern habe, bleibe man wohl oft in dieser sicheren Zone, die einem den Erfolg beschert. Und habe man Erfolg bei Preisen und Mäzenen, "hält einen das doch in einer kindlichen, privilegierten, unechten Existenz". Diese Scham sei aber nicht kommunizierbar. "Denn die korrekte Antwort darauf ist: 'Worüber beklagst du dich? Dann geh halt arbeiten.'"

Der Krieger als Gärtner

Er sei selbst zu harmlos gewesen. Aber kein Erwachsener solle harmlos sein. Ein Mensch, der sich sicher ist, keine negativen Seiten zu haben, sei erst recht gefährlich. Es gebe ein Sprichwort mit widerlichem Stallgeruch, so Setz: "'It's better to be a warrior in a garden than to be a gardener in a war.' Jemand, der weiß, zu was er fähig wäre, aber es nicht macht, ist besser als einer, der sagt, ich bin nicht dazu fähig, daher mache ich das nicht. Denn letztlich sagt man der Welt so, ich bin dein Kind. Du kannst mit mir machen, was du willst, aber bitte mach es nicht, denn ich bin so schützenswert und unschuldig." Das sei falsch, so werde man zur Zeitbombe. "Dinge wie Rechte und Freiheit, die wir als Tugenden sehen, kommen nämlich erst, wenn das Leben nicht fremdgesteuert wird, sondern sich mit Verantwortungen und Pflichten, die einem anfangs oft wahnsinnig lästig sind, füllt."

Die Pflichten eines Autorlebens sind zuweilen andere als die eines Angestellten. Ein Lehramtsstudium in Mathematik und Germanistik hat Setz schon vor Jahren unabgeschlossen hinter sich gelassen, dafür kann er Obertonsingen und Zaubertricks. Sein Tagesablauf ist nicht mehr so streng wie ehemals, als er um halb fünf Uhr zum Schreiben aufgestanden ist. Damals hatte er wenig Energie, die er gut nützen musste. Jetzt lässt er sich oft von den Katzen wecken.

Gerade schreibt er an einem Sachbuch über Plansprachen. Es gebe eine gigantische, weithin unbekannte literarische Parallelwelt auf Esperanto oder Volapük, doch "kein einziges Buch über Dichtung in ihnen. Ich möchte aber so eines lesen, verdammt. Also muss ich selber eines machen." Zudem hat er ein Drehbuch geschrieben, Zauberer (Regie: Sebastian Brauneis) kommt im April in die Kinos.

"Da bin ich nägelbeißend, wie der ankommt." Bei Buchkritiken habe das Herz zuletzt nicht mehr geklopft. "Es wäre schade, wenn ich nichts mehr spüren würde." Das wäre nicht genug, um seinen Geist am Leben zu halten. (Michael Wurmitzer, 10.2.2018)