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Wolfgang Leitner ist gelernter Chemiker, was ein Deckungsbeitrag ist, wusste er vor seiner Zeit als Unternehmensberater bei McKinsey nicht. Das hat sich geändert, denn seit geraumer Zeit ist er Vorstandschef des börsennotierten Anlagen- und Maschinenbauers Andritz. Im Gespräch mit dem STANDARD erzählt der 64-jährige Opernliebhaber, warum Asien in der Industrie besser organisiert ist als Europa, wie er zu NGOs und deren Aktivismus steht und welche Auswirkungen die Digitalisierung auf einen den multinationalen Konzern hat.

STANDARD: Es gibt ein Spannungsverhältnis zwischen Industrie und Tourismus. Das eine scheint mit dem anderen schwer kompatibel?

Leitner: Die Rolle des Tourismus wird in der österreichischen Öffentlichkeit tendenziell über-, die der Industrie unterschätzt. Es gibt in der Bevölkerung sicher einen breiteren Konsens, dass der Tourismus wichtig ist und entwickelt werden muss, als dies hinsichtlich der Industrie im Land der Fall ist.

STANDARD: Tourismus das Gute, Industrie das tendenziell Böse?

Leitner: Die Kategorien Gut und Böse führen zu nichts. Beide, Industrie und Tourismus, sind wichtig und gehören unterstützt.

STANDARD: Touristiker sagen, die Industrie verstehe es viel besser, Fördergelder lockerzumachen. Zumindest auf dem Gebiet könne die Industrie Vorbild sein.

Leitner: Ich freue mich, wenn die Industrie Vorbild ist, egal für wen. Die Forschungsförderung ist in Österreich nicht schlecht. Uns hat aber noch niemand angeboten, den Mehrwertsteuersatz für industriell hergestellte Produkte zu senken. Den Hoteliers wurde das für Logis in Aussicht gestellt.

Andritz zählt zu den weltweit führenden Herstellern von Turbinen.

STANDARD: Man kümmert sich zu wenig um den Industriestandort?

Leitner: In ganz Europa ist das so. Das fällt besonders auf, wenn man in Asien ist. Dort gibt es eine breite Übereinkunft zur Förderung der Industrie, zur Schaffung von Infrastruktur und zur besseren Ausbildung der Menschen. Es gibt eine klare Strategie, in welchen Bereichen man Weltmarktführer werden möchte, unterlegt mit entsprechenden Investitionsprogrammen. In Europa kann davon keine Rede sein. Wir diskutieren, welche zusätzlichen Transferzahlungen von A nach B gehen und welche Umweltvorschriften noch eingeführt werden sollen. Noch dazu noch mit extrem langen Genehmigungsverfahren.

STANDARD: Wie könnte der Industriestandort gestärkt werden?

Leitner: Europa sollte wegkommen von der Verteilungs- und Transferdiskussion und sich fokussieren. Die USA haben im Augenblick eine übersteigerte Interessenspolitik, aber sie sagen klar, was sie wollen und was nicht. In Asien dasselbe. In China verfolgt man zusätzlich politische Ziele.

STANDARD: Europa droht dazwischen zerrieben zu werden?

Leitner: Die europäische Politik ist sehr stark NGO-, das heißt menschenrechts- und umweltgetrieben – alles wichtige Dinge, die man sich aber leisten können muss.

Leitner beneidet Asien um deren Organisation und Einstellung zur Industrie.
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STANDARD: Inwieweit ist Andritz eigentlich noch ein österreichisches Unternehmen?

Leitner: Von den knapp sechs Milliarden Euro Umsatz machen wir etwas mehr als zwei Prozent in Österreich, von den rund 25.600 Mitarbeitern sind etwa 3300 hier beschäftigt, weniger als 13 Prozent. So gesehen spielt Österreich eine untergeordnete Rolle. Andererseits ist das Headquarter von Andritz in Österreich. Wir müssen und wollen alles tun, um auch der Landesgesellschaft eine Perspektive zu geben, die Arbeitsplätze zu sichern und idealerweise auszubauen. Insofern liegt schon viel Gewicht auch auf Österreich.

STANDARD: Haben Sie sich schon bei Kanzlerin Merkel bedankt wegen der Energiewende? Schließlich war sie es, die den Umbau des Energiesystems propagiert hat ...

Leitner: Man könnte das sarkastisch verstehen, mit gutem Grund.

STANDARD: Nämlich?

Leitner: Deutschland gibt jedes Jahr 25 Milliarden Euro zur Stützung von Wind- und Sonnenenergie aus. Deshalb ist der Strompreis an der Börse so niedrig wie noch nie. Die Folge: In der freien Wirtschaft wird viel weniger investiert, weil sich die Stromproduktion schlicht nicht mehr rentiert.

STANDARD: Sie als Lieferant von Pumpen, Turbinen und Biomassekesseln profitieren nicht davon?

Leitner: Das Gegenteil ist der Fall. Wir sind de facto Geschädigte der Energiewende, weil wir weder Wind noch Solar machen. Das Vorpreschen von Deutschland bei neuen Erneuerbaren hat den freien Markt durcheinandergewirbelt.

STANDARD: Immer mehr Länder springen auf diesen Zug auf, der Markt für erneuerbare Energien vergrößert sich. Ist das schlecht?

Leitner: Für uns ist gut, dass es Bemühungen gibt, den CO2-Ausstoß zu reduzieren und von den fossilen Energiequellen wegzukommen. Davon profitiert die Wasserkraft, davon profitiert auch unser Geschäft mit Biomassekesseln. Was uns noch zugutekommt: dass Windkraft und Solarenergie nicht vorhersagbar sind. Der Bedarf an Speichern steigt, auch der an Pumpspeichern. Da können wir partizipieren. Erst jüngst haben wir einen Großauftrag für einen Pumpspeicher in China erhalten.

Solarkollektoren bei den Wasserwerken Andritz
Foto: elmar gubisch

STANDARD: Apropos – wie entwickelt sich Ihr China-Geschäft?

Leitner: China sehen wir seit einem Jahr wirtschaftlich wieder sehr optimistisch. Wir hatten 2017 den höchsten Auftragseingang, seit wir dort tätig sind, also seit 20 Jahren. Wir haben an mehreren Standorten quer über China verteilt rund 3100 Mitarbeiter beschäftigt.

STANDARD: Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung bei Andritz?

Leitner: Das ist ein inkrementeller Prozess, jedes Jahr kommt mehr dazu. Im Vergleich zu unseren wesentlichen Mitbewerbern liegen wir bei der Digitalisierung sicher nicht hinten, sind mindestens gleichauf, in einigen Bereichen sogar vorn. Wir sehen die Digitalisierung als Chance. Es eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten.

STANDARD: Zum Beispiel?

Leitner: Wir können Anlagen selbst betreiben. Je autonomer und stabiler eine Anlage funktioniert, desto eher kann ich sie vom Standort entfernt betreiben. In Italien haben wir ein Zentrum, von dem aus wir zum Beispiel ein Wasserkraftwerk in Indien steuern. Wir haben ein paar Leute vor Ort, eine schnelle Einsatztruppe, wenn etwas kaputtgeht. Aber die Steuerung erfolgt von Italien aus.

STANDARD: Sehen Sie in der Automatisierung eine Möglichkeit, den Fachkräftemangel auszugleichen?

Leitner: Unser Hauptziel ist, aus bestehenden Anlagen durch mehr Automatisierung eine größere Menge an besseren Produkten herauszuholen. Je selbstständiger eine Anlage funktioniert, desto weniger Mitarbeiter braucht es. Unser Lieblingsprodukt ist die autonome Zellstofffabrik. In dieses Projekt haben wir sehr viel Geld gesteckt, und wir investieren weiter.

STANDARD: Wie weit sind Sie damit?

Leitner: Was das betrifft, sind wir sicher weltweit führend. Vor zehn Jahren schaffte eine Zellstoffanlage 700.000 Tonnen pro Jahr, jetzt sind es rund zwei Millionen Tonnen. Mithilfe neuer Software und künstlicher Intelligenz kann der Verarbeitungsprozess so gesteuert werden, dass am Ende ein besseres Produkt herauskommt. Durch weniger Stillstand kann sogar mehr davon produziert werden.

STANDARD: Was ist aus Ihrer Ankündigung geworden, verstärkt mit Start-ups zusammenzuarbeiten?

Leitner: Wir sind an diversen Inkubatoren beteiligt – in Österreich, aber auch im Ausland, unter anderem in Israel. Wir analysieren im Jahr einige 100 Start-ups im Hinblick auf Technologien und Geschäftsmodelle. Weil wir ein Industrieunternehmen sind, kein Venture-Capital-Fonds und auch keine Private-Equity-Gesellschaft, gibt es einen natürlichen Gegensatz in den Interessen.

STANDARD: Inwiefern?

Leitner: Der klassische Start-up-Unternehmer will Kapital in die Firma holen in dem Ausmaß, wie er es verwenden kann, und hat darüber hinaus den Exit im Auge. Er möchte möglichst spät möglichst teuer verkaufen. Wir hingegen wollen Technologien möglichst früh sehen, diese rasch entwickeln, behalten und damit Umsatz und Ergebnis machen. Der Gegensatz ist aber nicht unüberwindbar.

STANDARD: Was hat Sie die Zeit bei McKinsey gelehrt?

Leitner: Zum Beispiel, was ein Deckungsbeitrag ist. Ich bin ausgebildeter Chemiker, hatte null Ahnung von Wirtschaft. Das ist 36 Jahre her und hat sich inzwischen geändert (lacht). Profitiert habe ich von der Zusammenarbeit mit guten, sehr motivierten und hart arbeitenden Menschen. Auch die Arbeit mit Managern auf der Klientenseite hat mir sehr viel gebracht. Man schläft zwar wenig, dafür entwickelt man sich schnell.

Aktivisten der Umweltorganisation 'Global 2000' protestieren in Graz gegen die Pläne von Andritz.
Foto: APA/ KURT PRINZ

STANDARD: In der Vergangenheit hat es wiederholt Proteste gegeben gegen Projekte, in die Andritz involviert war oder ist, etwa das Staudammprojekt Ilisu in der Türkei oder Belo Monte in Brasilien. Trifft Sie das oder perlt das an Ihnen ab?

Leitner: Wir verstehen die Mechanismen. Da stehen NGOs dahinter, die Druck haben, in der Öffentlichkeit präsent zu sein. Nur so bekommen sie Spenden, so funktioniert ihr Geschäftsmodell. Solange sich das auf einer argumentativen Ebene abspielt, haben wir gar kein Problem. Persönlich finde ich es problematisch, wenn österreichische NGOs der Meinung sind, sie müssten etwas verhindern, was in Brasilien durch alle Genehmigungsverfahren gegangen ist. Auch für Sachbeschädigungen wie kürzlich bei unserer Konzernzentrale in Graz-Andritz habe ich null Verständnis.

STANDARD: Wo sehen Sie Andritz in zehn Jahren – Zentrale samt Top-Management noch in Österreich?

Leitner: Das hängt von der Entwicklung ab. Österreich ist ein tolles Land, hat gut ausgebildeten Mitarbeiter. Es gibt aber Nebengeräusche, die mal leiser, mal lauter zu hören sind – Stichwort Vermögens- und Erbschaftsteuer. Oder Stimmungsmache gegen Stiftungen, obwohl das die Besitzform eines Großteils der heimischen Industrie ist und deren Verbleib in Österreich sichern soll. Das macht uns langfristig Sorgen.

STANDARD: Sie werden im März 65. Wie lange bleiben Sie operativ tätig?

Leitner: Nicht unendlich lang, eine Zeitlang aber schon noch. Sobald ich beginne, bei Besprechungen einzuschlafen, wechsle ich auf die andere Seite, in den Aufsichtsrat, wo das - angeblich - zum Berufsbild gehört (lacht). (Günther Strobl, 11.2.2018)