Jovan versteckt sein Kinn im Kragen seiner Jacke, so kalt ist ihm. "Die Unabhängigkeit? Ach so, das ist mir egal", sagt der 17-jährige Schüler. Von den Feiern des zehnjährigen Bestehens des jüngsten Staates Europas bekommt man hier in Nordmitrovica, im mehrheitlich von Serben besiedelten Norden des Kosovo, nichts mit. Anstelle der blau-gelben kosovarischen Nationalflaggen, die im ganzen Land angebracht sind, hängen hier die Flaggen des Staates Serbien.

Die Menschen fühlen sich hier im Unklaren, sie wissen nicht, was die Zukunft bringen wird. Deshalb ist auch die Gegenwart irgendwie egal. Auf den Grünflächen liegen Plastiksackerln, Poster hängen halb abgerissen von den Häuserwänden. Es wird gebaut, aber die Häuser wachsen ziemlich planlos nebeneinander. Nur die serbischen Flaggen strahlen proper in Rot, Blau und Weiß an beiden Seiten der König-Petar-I.-Straße. Schließlich ist heute serbischer Staatsfeiertag.

Am serbischen Staatsfeiertag hängen zahlreiche serbische Fahnen in den Straßen Mitrovicas.
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Doch Feierlaune kommt hier nicht auf. "Wir fühlen uns nicht mehr sicher, seit Oliver Ivanović erschossen wurde", sagt Jovan offenherzig – seine Augen wandern die Straße hinauf und hinunter. Der kosovo-serbische Politiker Ivanović hatte das Vertrauen von vielen Bürgern hier. Er sagte, was er dachte: etwa dass kriminelle Gangs den Norden des Kosovo kontrollieren. Er hatte sich nicht nur den Schmugglergangs und den Mafiosi, sondern auch der Politik aus Belgrad widersetzt. Am 16. Jänner wurde er auf der Straße vor seinem Büro mit sechs Maschinengewehrsalven aus einem offenen Auto heraus erschossen.

Vor dem roten Haus seiner Partei liegen in einem Betonblumentopf rosa Plastikblüten und erfrorene weiße Lilien. Das Licht der gelben Bienenwachskerzen hält der Kälte nur Sekunden stand. Eine Frau versucht trotzdem die Flamme zu schützen. Eine Roma-Familie sortiert derweil die Kartons aus dem Müllkübel und packt sie auf den Minitraktor. Ein Polizist bewacht das Haus, auf dem noch immer ein Plakat mit Ivanović zu sehen ist. Zwei Polizeibeamte wurden kurzfristig verhaftet, weil sie an dem Tag, als Ivanović ermordet wurde, ihrer Dienstaufsicht angeblich nicht ausreichend nachgingen. Bislang gibt es aber keine relevanten Spuren.

Blumen im Gedenken an den ermordeten Politiker Oliver Ivanović vor dem Haus seiner Partei in Mitrovica.
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Dabei gibt es keinen Ort auf dem Balkan – wahrscheinlich in ganz Europa – mit einer derartig hohen Dichte an Sicherheitspersonal wie Mitrovica. An jeder Straßenecke stehen Männer in blauen Anzügen – die Abzeichen mit der Aufschrift "Kosovo Police" und dem gelben Umriss des Landes an ihren Oberarmen sind übrigens das Einzige, was daran erinnert, dass dieses Stück Land zum Kosovo gehört.

Ansonsten zahlt man hier mit Dinar, nicht mit Euro wie im Rest des Kosovo. Im Notfall geht beides. Es ist eben eine Welt zwischen zwei Staaten – halb integriert in den einen, gelenkt vom anderen. Der lokale Vertreter von Präsident Aleksandar Vučić ist Bürgermeister Goran Rakić, der an allen Ecken von Plakaten herabschaut – wahrscheinlich damit niemand auf die Idee kommt, seine Autorität infrage zu stellen. Mit Vertrauen hat das aber nichts zu tun. Seit Vučić 2013 mit dem "Brüsseler Abkommen" einräumte, den Norden des Kosovo in den Gesamtstaat zu integrieren, wurde hier die Serbische Liste von Rakić als herrschende Kraft durchgesetzt. Seitdem wurden die serbischen "Parallelstrukturen", etwa die Bürgerwehr, aufgelöst, auch die Gerichte gehören nun zum Staat Kosovo, so wie die Polizei.

Bürgermeister Goran Rakić schaut an allen Ecken der Stadt von Plakaten herab.
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"All diese Entscheidungen wurden aber von oben getroffen, die lokalen Serben hier wurden überhaupt nicht involviert", erzählt Miodrag Milićević von der NGO Aktiv über den harten Politikwechsel in Belgrad. "Seither hat sich viel verändert", sagt er. Am Anfang seien alle total schockiert gewesen, aber dann hätten die Leute die neue Lage langsam akzeptiert. Bis 2013 war die Linie von Belgrad noch, den Norden abzukapseln. Gerade die Serben in Mitrovica wurden im Widerstand gegen Prishtina von Belgrad unterstützt. Der Kosovo hatte sich neun Jahre nach dem Krieg, als die serbischen Autoritäten das Land verließen, im Jahr 2008 mithilfe des Westens für unabhängig erklärt. Praktisch hatte Belgrad damit nur mehr Einfluss im Norden und in ein paar wenigen Enklaven.

Seit 2011 gibt es aber einen von der EU moderierten Dialog: Handelsrechtliche Fragen, das Grenzmanagement, der Austausch von Urkunden und andere Konfliktpunkte wurden gelöst. Der für die serbischen Gemeinden 2013 versprochene Gemeindezusammenschluss wurde allerdings von kosovarischer Seite noch immer nicht eingeführt. "Die serbische Community wurde bis zu einem gewissen Ausmaß in den Staat integriert", sagt Milićević, "aber es gibt vieles, was nicht funktioniert."

Rechtliche Grauzonen

So könnten sich die Kosovo-Serben mit den serbischen Nummerntafeln aus Nordmitrovica nicht im ganzen Kosovo frei bewegen. Viele würden sich deshalb Belgrader Nummerntafeln besorgen, andere hätten kosovarische Nummerntafeln, viele hier in Mitrovica haben gar keine. Niemand belangt die Besitzer der Autos, die auf Gehsteigen parken. Weil die serbischen Gerichte hier abgezogen sind, aber die offenen Fälle in Serbien nirgends verhandelt werden, sind rechtliche Grauzonen entstanden. "Ein Freund von mir will wieder heiraten, aber er kann seine Scheidungsurkunde nicht bekommen, weil die Behörde fort ist", erzählt Milićević von den Alltagssorgen der Menschen in Nordmitrovica. "Wir hängen noch immer in der Luft und wissen nicht, zu welcher Seite wir gehören."

In den Chaosjahren rund um den Krieg 1999 wurden die Menschen hier politisch missbraucht, instrumentalisiert. Nun fühlen sie sich im Stich gelassen. Die Besinnung auf die Nation hat hier auch etwas Verlorenes. Ein Café ist etwa nach Gavrilo Princip benannt, der für viele ein Freiheitskämpfer ist. Der traurig blickende Mörder von Franz Ferdinand wirbt mit einem Weinglas in der Hand.

Nach Gavrilo Princip, dem Mörder von Franz Ferdinand, ist ein Café benannt.
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Auf Graffitis ist ein grimmiger weißer Adler zu sehen, davor schwarze Demonstranten. Unten am Ibar, dem Fluss, der den serbisch besiedelten Norden vom albanisch besiedelten Süden der Stadt trennt, verweist ein Schild darauf, dass die EU die Brücke renoviert.

Doch die EU hat ein extrem schlechtes Standing im Norden. Nur zehn Prozent der Leute sind für einen Beitritt. Im Süden sind es 83 Prozent. Auf dieser Seite der Brücke hängen kosovarische Fahnen an den Masten. Hier stehen auch riesige Betonbuchstaben auf dem Platz: #Kosova10 in Blau und Gelb verweisen auf den zehnten Geburtstags des Staates. Ein Mädchen steckt ihren Kopf durch die Null am Ende des Monumentes. Die Stimmung ist hier weit entspannter.

Der Schriftzug #Kosova10 in Blau und Gelb im Süden der Stadt Mitrovica verweist auf den zehnten Geburtstags des Staates.
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Die Leute im Norden sind deutlich gestresster. Die lokalen Mafiagangs gedeihen durch das Geld, das durch den Schmuggel reinkommt, und durch das Fehlen von effizienter Staatlichkeit wie in einem Biotop. Mittlerweile versuchen die serbischen und die kosovarischen Behörden zumindest den Mord an Ivanović gemeinsam aufzuklären. Der ehemalige US-Vizepräsident Joe Biden hatte den serbischen Präsidenten Vučić und den kosovarischen Präsidenten Hashim Thaçi aufgefordert zu kooperieren und die Situation zu beruhigen. Vučić und Thaçi telefonieren ohnehin regelmäßig miteinander.

Verbreiteter Pessimismus

Doch wie unsicher sich die Menschen hier im Norden fühlen, kann man an den Umfragedaten von der NGO Aktiv vom Vorjahr ablesen. Nur sieben Prozent der Befragten bewerteten die aktuelle politische Situation im Kosovo als gut. Manche Serben aus dem Norden berichten von interethnischen Zwischenfällen, immer wieder kommt es zu Raufereien. "Trotz der großen Polizeipräsenz werden aber kaum Verbrechen aufgeklärt", erzählt Milićević, der dringend eine Polizeireform einmahnt. Über 90 Prozent glauben, dass die Entwicklungen nicht in die richtige Richtung gingen, während jeder Zweite der Meinung ist, dass das Leben der Serben im Kosovo in drei Jahren schlechter sein werde als heute.

Jeder zweite Befragte fühlt sich nicht frei, seine politischen Ansichten öffentlich zu äußern. Die Menschen beklagen die organisierte Kriminalität – nur 15 Prozent unterstützen das Abkommen zwischen Serbien und dem Kosovo aus dem Jahr 2013.

Bürokratische Hürden

Milićević moniert auch, dass die vorgesehene Einstellung von Serben und anderen Minderheiten in kosovarischen Institutionen nicht ausreichend umgesetzt werde. Obwohl Serbisch offiziell Amtssprache im Kosovo sei, würden Amtstexte grottenschlecht aus dem Albanischen übersetzt. Auch von Absurditäten weiß er zu berichten. So haben die kosovarischen Behörden die Einfuhr von serbischen Büchern einige Zeit gestoppt – die Bücher wurden dann "illegal" über die Schmuggelwege ins Land gebracht.

Insbesondere auf dem Balkan kann man den Zustand einer Gesellschaft ziemlich gut daran messen, wie sie mit den Minderheiten umgeht. Die kosovarischen Behörden machen es den Serben aus dem Norden besonders schwer, Personalausweise zu bekommen. "Die verlangen dafür fünf Dokumente statt eines", erzählt Milićević.

"Wir fordern nicht viel. Die kosovarischen Behörden müssen nur die vorgesehenen Gesetze umsetzen, das würde unser Leben schon massiv verbessern", sagt der Mann, der in dem Café Luna seinen Mitbürgern auf die Schulter klopft. Viele wollten einfach nur weg hier. Fast jeder zweite Befragte sieht sich in den nächsten fünf Jahren nicht im Kosovo. "Das Abkommen mit Serbien wird umgesetzt, der Dialog zwischen Belgrad und Prishtina beendet", prognostiziert Milićević. "Aber das Ganze passiert ohne die Leute. Die gehen ins Ausland." (Adelheid Wölfl aus Nordmitrovica, 16.2.2018)