Reinhard Haller: "Wer ist schon gern das Opfer? Wer will diese Rolle einnehmen? Unter Jugendlichen ist das Wort Opfer zum Schimpfwort verkommen."

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STANDARD: Die Missbrauchsvorwürfe im Skisport reichen bis zu 50 Jahre zurück, auch in der #MeToo-Debatte geht es oft um weit zurückliegende Vorkommnisse. "Warum erst jetzt?" ist eine wiederkehrende Frage. Wie lautet Ihre Erklärung?

Haller: Weil jetzt endlich die Gelegenheit gekommen ist. Es ist nicht mehr verpönt, über das Thema zu sprechen. Das zeigt die öffentliche Berichterstattung. Man fühlt sich ernst genommen. Man hätte solche Vorwürfe damals kaum gegen eine Skilegende erheben können. Das hätte sich einfach nicht gehört. Jetzt kann man sich bekennen. Die Zeit ist reif, um Dinge anzusprechen, die über die Jahre hinweg tabuisiert wurden. Und das ist auch gut so.

STANDARD: Trotzdem bevorzugen die meisten Betroffenen den Schutz der Anonymität. Ist der Gang an die Öffentlichkeit also doch nicht so unproblematisch?

Haller: Wenn jemand darüber reden kann, aber anonym bleiben will, ist das ein Fortschritt. Denjenigen, die dann auch noch ihren Namen nennen, kann ich nur Respekt aussprechen. Wer ist schon gern das Opfer? Wer will diese Rolle einnehmen? Unter Jugendlichen ist das Wort Opfer zum Schimpfwort verkommen. Gerade Missbrauch ist doch mit Scham und Stigmatisierung verbunden. Das Entscheidende ist aber nicht, den eigenen Namen oder jenen des Täters zu nennen, sondern das Erlebte zur Sprache zu bringen und damit das Unsägliche auszusprechen. Dadurch verliert es ein bisschen an Schrecken.

STANDARD: Hilft das Aussprechen bei der Bewältigung des Erlebten, auch wenn es Jahre oder gar Jahrzehnte zurückliegt?

Haller: Die Erleichterung kann enorm sein. Es ist ein Eiterprozess, der sich unbemerkt unter der heilen Haut abspielt. Man sieht ihn nicht, aber er wühlt, er zermürbt, er beschämt. Irgendwann kommt der Chirurg und sorgt dafür, dass der Eiter abfließen kann. Genau dieselbe Funktion hat es, wenn ein Mensch über das sprechen kann, was ihn bedrückt. Das alles ist freilich noch keine Therapie. Die brauchen viele aber auch gar nicht.

STANDARD: Nun gibt es schwere Vorwürfe gegen eine Trainerlegende der Siebzigerjahre. Eine der Betroffenen meinte, irgendwann müsse man für seine Taten geradestehen, man müsse büßen. Was können Sie diesem Gedanken abgewinnen?

Haller: Da habe ich schon ein bisschen meine Schwierigkeiten. Strafe muss für den Beschuldigten auch den Sinn haben, dass er sich bessert. Bei einem 85-Jährigen ist das relativ schwierig. Natürlich hat der Mensch auch Rachebedürfnisse, das ist ja nachvollziehbar. Rache muss aber mit Augenmaß erfolgen. Sie ist nur psychologisch sinnvoll, wenn sie dem rechten Maße folgt. Der nun Beschuldigte fragt, warum er das in dem Alter noch erleben müsse. Der mediale Pranger wird als sehr große Strafe empfunden.

STANDARD: Welche Konsequenzen haben die Vorwürfe für einen Beschuldigten?

Haller: Ohne jetzt irgendeinen konkreten Fall zu beurteilen: Es gibt keine wirksamere Form, jemanden sozial hinzurichten, als den Vorwurf des sexuellen Missbrauchs oder der Pädophilie. Ich will nichts entschuldigen, aber man muss diesen Aspekt schon auch betrachten. Man wird heute nicht mehr in einem Stadtviertel an den Pranger gestellt, sondern weltweit für lange Zeit, vielleicht für immer, das ist schon eine schlimme Geschichte. Es kommt auch zu Falschanzeigen.

STANDARD: Kann ein zu Unrecht Beschuldigter aus der Situation noch irgendwie unbeschadet herauskommen?

Haller: Das ist fast unmöglich. Irgendwas wird schon gewesen sein, heißt es dann im besten Fall. Man könne es halt nicht mehr beweisen. Für den Beschuldigten ist es eine Katastrophe, er ist sozial geschädigt. Den Missbrauch des Missbrauchs muss man im Auge behalten.

STANDARD: Warum ist gerade der ÖSV in den letzten Monaten derart in den Blickpunkt gelangt?

Haller: Wir leben in einer hypersexualisierten Welt. Das kann man ja nicht wegreden. Auf der einen Seite ist das sehr befreiend, auf der anderen Seite ist ein schlechtes Gewissen dabei. Dann braucht man psychodynamisch noch ein schwarzes Schaf. Einen Ort, an dem man seine Wut abladen kann. Früher war das die Kirche. Sexueller Missbrauch ist gerade dort besonders verwerflich, weil es sich um eine moralische Instanz handelt, die das Gegenteil predigt. Sexuellen Missbrauch gibt es aber in allen autoritären, abgeschotteten Systemen, bis hin zur Familie. Und natürlich auch in Vereinen und Verbänden. In solchen Strukturen ist die Gefahr groß. Jetzt kommt der ÖSV dran, aber es werden andere auch noch drankommen.

STANDARD: Oft heißt es, die Debatte schade dem Sport. Zieht er nicht eher Nutzen daraus?

Haller: Die ganze Diskussion dient der Sensibilität. Ich habe vor ein paar Jahren im ÖSV ein Seminar zum Thema Missbrauch im Traineramt oder dergleichen gehalten, da war das Interesse gering, weil man es verdrängt und tabuisiert hat.

STANDARD: Sie sind in der Klasnic-Kommission, die der ÖSV eingerichtet hat, um Vorwürfe aufzuarbeiten. Was darf man erwarten?

Haller: Jeder, der missbraucht wurde, kann sich melden. Dann wird die Situation beurteilt und der Schaden bemessen. Braucht eine Person Therapie? In welchem Umfang? Ist ein Schmerzensgeld angemessen? Man kann das Ganze nicht mehr ungeschehen machen. Und viele wollen auch gar kein Geld. Ich bin da eher pragmatisch, es ist zwar nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aber zumindest eine kleine Entschädigung.

STANDARD: Sie haben sich in Ihrem Berufsleben intensiv mit Sexualstraftätern beschäftigt. Wie geht die österreichische Gesellschaft, wie geht die Politik mit ihnen um?

Haller: Alle politischen Parteien bis zu den Grünen und den Neos haben nur eine Lösung: Strafen, Strafen, Strafen, noch strengere Strafen. Das Volk hat nur eine Lösung: Kopf ab, Rübe ab, Schwanz ab, für immer einsperren. Sie bekommen keine Chance auf Begnadigung wie jeder andere. Sie sind in der Regel ihre Familie los. Es kommt zu Scheidungen, die Kinder wollen nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Sie müssen Psychotherapiekosten tragen, Schmerzensgeld tragen, sie kommen auch zivilrechtlich dran. Sie stehen in der Hackordnung im Gefängnis ganz unten. Verstehen Sie mich nicht falsch, jede von diesen Strafen ist gerechtfertigt, jede einzelne für sich. Aber alles zusammen ergibt sehr viel.

STANDARD: Die Aufmerksamkeit gilt vorwiegend den Opfern. Ist das nicht eine moralische Verpflichtung?

Haller: Als ich ein junger Sachverständiger war, haben die Opfer überhaupt niemanden interessiert. Da ging es ausschließlich um die Täter. Was muss der für eine böse Mutter gehabt haben? Was muss der in seiner Kindheit durchgemacht haben? Wenn man darauf hingewiesen hat, dass die Opfer wohl auch einiges durchgemacht haben, war das einfach uninteressant. Glücklicherweise stehen jetzt die Opfer und deren Leid im Mittelpunkt des Interesses. Das muss auch so sein. Man hat dadurch aber die Täterseite vernachlässigt.

STANDARD: Was läuft im Umgang mit den Tätern falsch?

Haller: In der politischen Diskussion kommt Therapie als Gedanke gar nicht mehr vor. Ich fordere nicht Therapie statt Strafe wie im Suchtbereich, weil die Taten im Sexualbereich Opfer fordern. Aber man müsste mit Strafe und Therapie zweigleisig fahren. Auch im Hinblick auf eine sinnvolle Prävention. Der Gedanke, dass Täter zum Teil auch Störungen haben und Hilfe brauchen, ist komplett verschwunden. Damit sollte man sich allerdings befassen.

STANDARD: Warum wird dieses Thema im Diskurs ausgeklammert?

Haller: Wenn man in dieser Thematik Anerkennung will, muss man über die Opferseite sprechen. Wenn man über die Täterseite spricht, kommen die Buhrufe. (Philip Bauer, 17.2.2018)