"Nicht jeder mit psychischen Symptomen hat eine Diagnose, und nicht jeder mit einer Diagnose muss ins Krankenhaus. Die Gretchenfrage unseres Faches ist immer noch, wann man Symptome als behandlungsbedürftig einstufen soll", sagt Psychiater Martin Fuchs.

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Hall – Etwa ein Viertel der österreichischen Zehn- bis 18-Jährigen ist psychiatrisch auffällig. Dabei handelt es sich vor allem um Angst-, Entwicklungs- oder Essstörungen, Depressionen und Suchterkrankungen. Die Bezeichnungen für die Erkrankungen sind meist für Kinder und Erwachsene gleich, die Anforderungen an die Behandlung unterscheiden sich aber deutlich. "Mich wundert immer, dass vielen dieser Unterschied nicht klar ist", sagt Kathrin Sevecke. Sie leitet die kürzlich eröffnete Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hall bei Innsbruck.

Auch Martin Fuchs, der hier als Oberarzt arbeitet, weist darauf hin, dass die Krankheitsbilder nicht eins zu eins vergleichbar sind. "Bei anderen Erkrankungen würden wir doch alle automatisch mit unseren Kindern zum Kinderarzt gehen", ergänzt Sevecke.

Bisher, so scheint es, wurde in Österreich auf diese Unterschiede nicht ausreichend eingegangen: Es werden zu wenige Therapieeinrichtungen im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie, speziell im ländlichen Raum, angeboten. In der stationären Versorgung gibt es erst rund die Hälfte der österreichweit notwendigen 850 Plätze, kritisiert die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (ÖGKJP).

Situation teilweise verbessert

Doch die Situation verbessert sich langsam: So ist die neue Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hall ein Versuch, mit 43 statt bisher 22 Plätzen auf den bisherigen Versorgungsengpass in Innsbruck zu reagieren. Während der Nachtdienste wurde dort aus Personalmangel auch oft ein "Erwachsenenpsychiater" gerufen – nur für die Hälfte der Zeit war ein Kinder- und Jugendpsychiater zur Stelle. Auch das soll sich nun mit dem neuen Haus ändern.

In Hall werden Therapieformen angeboten, die dem neuesten Stand entsprechen. Neben Spezialstationen, die etwa auf Patienten mit Essstörungen oder Suchterkrankungen zugeschnitten sind, wird es auch eine Tagesklinik für verhaltensauffällige junge Menschen geben.

Wann ist eine Behandlung notwendig?

Ein klare Diagnose ist in vielen Fällen nicht einfach, die Grenze zwischen Auffälligkeit und psychischer Erkrankung verschwimmt häufig. Besonders während der Pubertät werden in Befragungen oft Symptome wie Gereiztheit oder Stimmungsschwankungen berücksichtigt. "Das sind allerdings Auffälligkeiten, die bei rund 20 Prozent aller Jugendlichen vorkommen und normal für die Pubertät sein können", so Sevecke. "Nicht jeder mit psychischen Symptomen hat eine Diagnose, und nicht jeder mit einer Diagnose muss ins Krankenhaus. Die Gretchenfrage unseres Faches ist immer noch, wann man Symptome als behandlungsbedürftig einstufen soll."

Würde beispielsweise Selbstverletzung als eigene Erkrankung definiert werden, dann wäre das mit sieben bis zehn Prozent aller Jugendlichen in Österreich eine sehr häufige Diagnose. Die Definition der richtigen Kriterien ist laut Martin Fuchs deshalb essenziell: "Da muss sich die Wissenschaft im Hintergrund schon ein Stück weit überlegen, ob das zu einer Erkrankung wird oder wie wir das definieren sollen."

Er selbst arbeitete für die Med-Uni Innsbruck an Studien zu Verbreitung und Ursachen psychischer Krankheiten in jungen Jahren. Die Zahl der Betroffenen in Krankheitsgruppen wie Depression, Schizophrenie, Angststörungen, ADHS oder Autismus-Spektrum-Störungen ist in den letzten Jahren relativ konstant geblieben. Andere Erkrankungsbilder wie emotionale Störungen, Selbstverletzungen, Essstörungen oder Suchterkrankungen – auch im Sinne eines überdurchschnittlich hohen Medienkonsums – sind in ihrer Häufigkeit hingegen gestiegen.

Hoher Anteil psychischer Störungen

Wichtig ist es Fuchs zufolge auch, dass die Erhebungsmethoden kritisch hinterfragt werden. Ein Beispiel: Werden Kinder und Jugendliche selbst befragt, ergibt das andere Werte in puncto Erkrankungshäufigkeiten als bei einer Befragung der Eltern oder Lehrer. Es macht auch einen Unterschied, welche Störungsbilder einbezogen werden. Bei einer repräsentativen Studie der Med-Uni Wien wurden etwa auch die Bereiche Selbstverletzungen und Medienabhängigkeit einbezogen. Zudem setzten die Forscher auf eine Kombination an Befragungsmethoden.

Das Ergebnis: Die Erkrankungszahlen waren höher als in anderen Untersuchungen. Demnach konnten bei fast einem Viertel der unter 18-Jährigen Hinweise auf eine aktuell bestehende psychische Störung festgestellt werden. Diese hohen Prozentsätze könnten darauf hindeuten, dass unter Heranwachsenden psychische Störungen nicht seltener sind als in der Gesamtbevölkerung, so das Fazit der Wissenschafter.

Erhöhte Sensibilität

Die relativ hohen Werte dürften nicht zuletzt aber auch mit einer gesteigerten Aufmerksamkeit in der Bevölkerung zusammenhängen. Besonders beim Thema Essstörungen macht sich eine Sensibilisierung bemerkbar. Ärzte berichten sogar von erst fünfjährigen Kindern, die von ihren Eltern in die Klinik gebracht werden, weil sie das Essen verweigern.

"Gerade bei Essstörungen ist es schon so, dass Familien früher kommen. Und das ist natürlich positiv, weil man dann früher darauf reagieren kann", bestätigt Martin Fuchs. Auch gebe es immer wieder erfreuliche Beispiele von Jugendlichen, die selbst handeln: Zu einer Spezialsprechstunde zum Thema "Selbstverletzung" brachte ein Mädchen eine Freundin mit, die sich ritzte. "Sie hat gemeint, sie kündigt ihr die Freundschaft, wenn sie nicht mit ihr hingeht."

Kathrin Sevecke nimmt ebenfalls eine allgemeine Bedeutungszunahme ihres Faches wahr: "Die psychische Gesundheit wird immer weiter im Fokus stehen, die psychischen Symptome weiter steigen, und neue Fragen, zum Beispiel zu den Folgen hohen Medienkonsums, werden wichtiger werden." Die neue Klinik zeigt sich für sie somit als Schritt in die richtige Richtung: "Ich wünsche mir eine Haltung der Bevölkerung, bei der körperliche und seelische Probleme gleichgestellt sind. Wir haben da noch einen weiten Weg vor uns, aber es tut sich was." (Katharina Kropshofer, 24.2.2018)