",Waldes Dunkel‘ ist ein Buch über das Leben in einer Welt, in der das Wissen eine Religion und das Unbekannte unbedingt zu vermeiden sei. Und darüber, dass man das nicht einfach zu akzeptieren brauche", sagt Nicole Krauss.

Foto: Goni Riskin

Nicole Krauss, "Waldes Dunkel". Aus dem Amerikanischen von Grete Osterwald.€ 24,– / 378 Seiten. Rowohlt-Verlag 2018

Cover: Rowohlt

"Gaga". Nicht Gaga wie Lady Gaga oder gaga wie plemplem, sondern Gaga wie die moderne Tanzform aus Israel, die sich seit einiger Zeit auch in Deutschland wachsender Beliebtheit erfreut. So hat ein Freund von Nicole Krauss ihren neuen Roman charakterisiert und ihr damit ein Riesenkompliment gemacht. "Gaga ist wild, intim, mutig", sagt die amerikanische Autorin, "und genau so sollte sich Waldes Dunkel anfühlen. Denn so fühlte sich das Schreiben an."

Es ist ein milder Winternachmittag, und wir stapfen durch den verschneiten Prospect Park in New York. Krauss schreitet kräftig aus in ihren festen Stiefeln, die nicht so ganz passen zur Eleganz ihres gelben Wollmantels, den sie eng um sich zieht, wenn sie nicht gerade lebhaft mit den Händen gestikuliert. Nur gelegentlich hält sie inne, um sich zu vergewissern, dass auch wirklich angekommen ist, was sie gesagt hat, den Blick forschend auf ihr Gegenüber gerichtet. Diese Frau verlangt Aufmerksamkeit und versprüht eine Energie für drei.

Der weitläufige Prospect Park bildet praktisch den Vorgarten von Nicole Krauss’ Haus im schicken Brooklyner Viertel Park Slope. Krauss kommt oft zum Joggen her, um Luft ins Hirn zu lassen und ihren Körper wieder zu spüren nach einem verkopften Tag vorm Computer. Noch vor wenigen Jahren verschwendete die 44-jährige Schriftstellerin kaum einen Gedanken an körperliche Ertüchtigung irgendeiner Art. Dazu war sie viel zu sehr mit ihrer Arbeit beschäftigt: mit ihrem Debüt Kommt ein Mann ins Zimmer 2002, das ihr auf Anhieb Kritikerlob, darunter das der Kulturikone Susan Sontag, einbrachte; mit dem darauffolgenden Roman Eine Geschichte der Liebe von 2005, der in 35 Sprachen übersetzt und verfilmt wurde; mit Das große Haus, dem Epos über Liebe und Verlust, den Holocaust und Erinnerung, das sie endgültig als eine der wichtigsten US-Autorinnen ihrer Generationen etablierte.

Abstand zur Glitteratur

Wenn sich Nicole Krauss bewegte, dann metaphorisch, die Karriereleiter hinauf. In Wirklichkeit aber kam sie immer öfter zum Stillstand. "Der Druck nahm mit jedem Buch zu", erinnert sie sich. "Meine Professionalität drohte die Freude zu ersticken, die ich ursprünglich beim Schreiben empfunden hatte, die Lust, die mich mit 15 überhaupt richtig damit anfangen ließ." Sie steckte fest – tiefer, als sie wahrhaben wollte. Waldes Dunkel ist das Protokoll einer Selbst- und Neuerfindung, eine Geschichte über Stagnation und Aufbruch. Und Gaga spielte dafür eine entscheidende Rolle.

Zum ersten Mal begegnete Nicole dem Tanz 2010. Sie verbrachte vier Monate in Tel Aviv mit ihrer Familie. Die bestand damals aus ihrem Mann, dem Bestsellerautor Jonathan Safran Foer (Alles ist erleuchtet), und ihren zwei kleinen Jungen. Zu jenem Zeitpunkt stellten Krauss und Foer das Traumpaar des literarischen Establishments schlechthin dar. Hollywood hatte Brangelina, die Literaturszene hatte Brooklyn und Krauss-Foer.

Der ausgedehnte Urlaub in Israel sollte unter anderem ein bisschen Abstand zur Glitteratur und zum Klatsch dieser Welt schaffen, zu deren Inbegriff die beiden geworden waren.

"In Tel Aviv luden Freunde mich zu einer Vorstellung der berühmten Tanztruppe Batsheva ein. Was ich da sah, rührte mich zu Tränen", erzählt Krauss. Das Zucken und Zusammenfallen, das ungestüme Herumwirbeln der Tänzer, die Sprünge, Handstände, die schiere Sinnlichkeit des Dargebotenen hätten etwas in ihr freigesetzt, das sie viel zu lange ignoriert hatte. "Ich lernte Ohad Naharin kennen, den Schöpfer von Gaga, und begann, selber Kurse zu besuchen. Ich merkte, dass ich bis dahin ganze Bereiche meiner selbst vernachlässigt hatte, Emotionen, die man nur durch den Körper erfährt."

Tanzen bedeute, sich verfügbar zu machen, für Freude, für eine Explosion, für Stille. So formuliert es die Protagonistin in Waldes Dunkel. Auch sie heißt Nicole, ist um die 40 und reist aus Brooklyn nach Tel Aviv in der Hoffnung, eine Schreibblockade zu überwinden und sich über den Zustand ihrer Ehe klarzuwerden. Nach zehn Jahren haben sie und ihr Mann vor lauter Liebe zu ihren Kindern vergessen, dass sie einst auch ineinander verliebt waren. Der Mann, den Nicole bei ihren Skype-Gesprächen nach Hause sieht, wirkt wie ein Fremder auf sie. Soll sie die Sicherheit ihrer Ehe aufgeben, auf die Gefahr hin, damit ihren Kindern Schmerzen zuzufügen? Oder soll sie sich mit einem halben Leben begnügen, um eine Illusion von Stabilität zu bewahren? "Ich stelle mich den Leserinnen in diesem Roman als Versuchskaninchen zur Verfügung", sagt Nicole Krauss. Geschickt weicht sie einem Mädchen aus, das ihr auf einem futuristischen Schlitten direkt vor die Füße rutscht. Sie lacht, wird wieder ernst. "Ich bin die Nicole in diesem Buch, und doch ist Nicole eine komplette Erfindung." Was stimmt, ist: Auch Krauss’ Ehe ist in die Brüche gegangen. 2014 ließen sie und Foer sich scheiden, ein Umstand, den die hiesigen Boulevardblätter und Feuilletons hämisch kommentierten. Auch was die Figur Nicole empfindet, teilt sie mit der Autorin des Buches: "Irgendwann gelangen wir alle an einen Punkt im Leben, an dem wir uns in der Rolle gefangen fühlen, auf die wir uns freiwillig und unfreiwillig haben festlegen lassen – Ehefrau, Mutter, Schriftstellerin, was auch immer", sagt Krauss. Wenn man heirate, verspreche man sich einem anderen bis zum Tod: "Das kommt dem Versprechen gleich, sich nie zu verändern. Ich habe gemerkt, dass das für mich nicht funktioniert. Dass es mich unempfänglich macht für neue Erfahrungen, mir die Lust darauf nimmt, etwas zu wagen, ohne mich vor den Folgen zu fürchten."

Die Stiefel knöcheltief im Schneematsch, die rosarote Nasenspitze im Licht der sinkenden Sonne und mit einem Nachdruck wie Moses am Berg fährt Nicole Krauss fort: "Ich habe mich von Erwartungen befreit. Von meinen eigenen und von denen anderer." Waldes Dunkel sei ein Buch über das Leben in einer Welt, in der das Wissen eine Religion und das Unbekannte unbedingt zu vermeiden sei. Und darüber, dass man das nicht einfach zu akzeptieren brauche.

Um diesen Punkt zu verdeutlichen, erzählt Krauss in dem Roman eine weitere Geschichte, die parallel zu jener Nicoles verläuft. Es ist die von Jules Epstein, einem 68-jährigen Anwalt, den "eine unwiderstehliche Sehnsucht nach Leichtigkeit" ebenfalls nach Tel Aviv treibt. Er hat sich scheiden lassen, sich aus seiner New Yorker Kanzlei zurückgezogen, und nun will er, sehr zum Missvergnügen seiner erwachsenen Kinder, sein Vermögen verschenken. Er stiftet einen Wald in der Wüste zum Andenken an seine Eltern und finanziert einen chaotischen Film über König David. Warum? Er weiß es nicht genau. Aber er weiß, dass er die Nase voll hat von seinem alten Selbst. "Epstein und Nicole riskieren beide den Schritt ins Ungewisse", so die Autorin. "Sie geben etwas auf – und gewinnen unendlich viel hinzu."

Sehnsucht und Sicherheit

Neulich begleitete Krauss ihren jüngeren Sohn zur Schule. Sie und Jonathan Safran Foer teilen sich das Sorgerecht und wohnen nur wenige Häuserblocks vonein ander entfernt, sodass Sasha (11) und Cy (8) problemlos zwischen den beiden pendeln können. Cy will Abenteurer werden: "Er versteht nicht, warum nicht alle Leute ihr Leben mit Reisen und Entdeckungen verbringen." Und doch fürchte er, dass er seiner Abenteuerlust vielleicht seine Familie opfere: "Ich habe ihm erklärt, dass das Leben immer ein Hin und Her zwischen Sehnsucht und Sicherheit ist. Lebe ich ein erfülltes Leben? Es kommt darauf an, an welchem Tag Sie mich fragen. Auf jeden Fall bereue ich keine meiner Entscheidungen."

Wir sind am Parkausgang angelangt. In wenigen Stunden wird Nicole Krauss nach Tel Aviv fliegen. Ihr neuer Partner, ein israelischer Journalist und Autor, lebt dort. Krauss’ Liebe zu der Stadt ist allerdings alt. Ihr Vater wuchs zum Teil da auf. Die vielen Wochen bei Verwandten und Freunden gehören zu ihren schönsten Kindheits- und Jugenderinnerungen. "Es ist eine Stadt, in der sich das Leben in der Öffentlichkeit abspielt. Die Menschen sind ungeheuer aufgeschlossen und feiern das Zusammensein trotz oder vielleicht gerade wegen der umstrittenen Grenzen, mit denen sie sich umgeben."

Offenheit, Spontaneität, Grenzen und deren Überwindung: In Waldes Dunkel hat Nicole Krauss eine Menge verpackt. Es ist ihr erster Roman mit einer starken Frauenstimme. Ihr erster Roman, der entschieden ins Surreale kippt, und einer, der an den Haaren herbeigezogene Szenen enthält. Ein Roman, in dem sie das Pathos gelegentlich dicker aufträgt als andere Nutella aufs Frühstücksbrot. Ein Roman wie Gaga eben, "wild, intim, mutig". Also genau so, wie Krauss ihn haben wollte. (Sacha Verna, Album, 25.2.2018)