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Blick vom Stadtteil Vomero auf den Golf von Neapel.

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Wien – Band vier, Die Geschichte des verlorenen Kindes, beschließt Elena Ferrantes Tetralogie über eine lebenslange Freundschaft zweier Mädchen bzw. Frauen aus Neapel. Die seit Jahren auf Bestsellerlisten zu findende Saga, die einen proletarischen und einen akademischen Lebensweg engführt, wird von HBO und Rai bereits als Fernsehserie verfilmt. Diese soll ab Sommer in 32 Teilen ausgestrahlt werden. Zum Casting nach Neapel sind im Vorjahr rund 5000 Kinder gekommen.

Das Aufwachsen unter vielen Kindern und das Geprägtwerden von Armut und Gewalt im neapolitanischen Rione war Thema im ersten Teil Meine geniale Freundin, mit dem die unter Pseudonym schreibende Autorin 2011 verkaufstechnisch durch die Decke stieß. Mit dem soeben bei Suhrkamp erschienenen letzten Band rücken die späten Lebensjahrzehnte von Elena Greco und Lila Cerullo in den Fokus: die 1980er-Jahre bis herauf in die Gegenwart.

Feindseliges Verhalten

Insgesamt sind es in der deutschen Übersetzung Karin Kriegers 2200 Seiten geworden, über die sich die zwei Lebensentwürfe im Nachkriegsitalien erstrecken. Lila brach aus dem in Camorra-Nähe geführten Eheleben aus, ging arbeiten und gründete schließlich eine Computerfirma. Elena machte indes Karriere als Schriftstellerin und heiratete in eine Florentiner Intellektuellenfamilie ein.

In Teil vier nun geraten die biografischen Stützpfeiler ins Wanken. Elena kehrt ihrer Jugendliebe wegen mit zwei Töchtern nach Neapel zurück und wird, parallel zu Lila, 36-jährig ein drittes Mal Mutter. Das lässt die Nähe der Freundinnen zueinander nicht zwangsläufig wachsen, obwohl sie stets füreinander da sind.

Der faszinierende Grundton von Ferrantes Menschenanalyse liegt in dem Changieren zwischen zwei unergründlichen Optionen: feindseliges Verhalten bei stets spürbar ganz großer Liebe. Eine Freundschaft, die sich auch in all ihrer Härte zeigt. Es ist der soziale Aufstieg, der Elena in Neapel zur Außenseiterin macht, aber auch das ihr zugeschriebene Unverständnis für die informellen Lebensgesetze im Rione, jenseits von Mafiastrukturen. Der Roman spürt nachhaltig und sich immer wieder selbst korrigierend Bruchlinien zwischen Menschen nach, seien diese politisch motiviert oder moralisch, oder betreffen sie die sexuelle Identität.

Nicht mehr verstanden

Am Ende wird es so sein, dass Elenas erwachsene Töchter über die Literatur ihrer Mutter höhnisch kichern. Ein Zeichen dafür, dass sich Elena, mittlerweile in ihren 60ern, von der Welt nicht mehr ganz verstanden fühlt.

Der größte Bruch aber drückt sich im Titel selbst aus: Das Verschwinden eines Kindes verbindet die zwei Freundinnen schließlich tragisch. Dieser Schmerz führt zu einem Kern der Tetralogie zurück, der Frage, wo Literatur entstehen kann und wer berechtigt ist, sie zu produzieren. Ferrantes Saga handelt nämlich, indem sie von der zur Schriftstellerin gewordenen Elena erzählt, auch und insbesondere von der ungeschriebenen Poetik einer neapolitanischen Proletarierin. (Margarete Affenzeller, 24.2.2018)