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Natascha Kampusch bei einer Vorführung des Films "3096 Tage". Mittlerweile ist Kampusch als Schmuckdesignerin tätig

Foto: Reuters/Prammer

Am 2. März 1998, einem Montag, verschwand in Wien-Donaustadt ein zehnjähriges Mädchen auf seinem Schulweg. Spurlos, wie man sagte. Der Name des Kindes wurde bald zum Synonym für einen der spektakulärsten Kriminalfälle der Zweiten Republik: Natascha Kampusch. Da der Name des Täters, Wolfgang Priklopil, erst acht Jahre später, im August 2006 bekannt wurde, wird noch immer der Name seines Opfers jedes Mal im Mund geführt, wenn über ihre Entführung und ihren jahrelangen Freiheitsentzug geschrieben oder gesprochen wird. Im öffentlichen Diskurs spricht man vom Fall Kampusch, niemals vom Fall Priklopil.

Mädchen mit rotem Janker

Das kleine Mädchen mit dem roten Janker war schnell allen bekannt. An kaum einem anderen Fall nahm die Öffentlichkeit so Anteil wie am Verschwinden der Volksschülerin. Ihr Bild flimmerte in heimischen Wohnzimmern über die Bildschirme, ihre Eltern traten im Fernsehen auf.

Es gab eine Zeugin im Fall. Eine Zwölfjährige, die aussagte, sie habe beobachtet, wie Kampusch von zwei Männern in einen weißen Kastenwagen gezerrt wurde. Ernst genommen wurde sie nicht. Nicht einmal, als acht Jahre später klar wurde, dass Kampusch tatsächlich mit einem solchen Wagen entführt worden war. 2009 revidierte sie bei einer polizeilichen Gegenüberstellung mit Kampusch ihre Version der zwei Täter plötzlich.

Nachdem die junge Frau sich selbst befreien konnte, wurde der Fall jedenfalls einer, in dem an mehreren Fronten gekämpft wurde. Unter anderem prozessierte ihre Mutter Brigitta Sirny gegen den Richter Martin Wabl und den Höchstrichter Ludwig Adamovich, weil diese ihre Rolle in der Causa hinterfragt hatten.

Kinderspielzeug

Nur dem Entführer wurde nie der Prozess gemacht. Er soll noch am selben Tag Suizid begangen haben, indem er sich vor einen Zug warf. Davor soll er sich noch einem Freund anvertraut haben, der nichts davon gewusst haben will, dass Priklopil über Jahre ein Mädchen in einem Verlies im Keller seines Haus gefangengehalten hat. H. war auch Geschäftspartner von Priklopil. Er betreibt immer noch seine Baufirma. Diese verkauft auch Kinderspielzeug: Sie ist im Impressum einer Webseite für "Kreativspiele" für Kinder eingetragen. Das Unternehmen bietet kleine Webstühle an, mit denen Gummibänder zu Armbändern gemacht werden können.

Heute weiß man: Das Verlies im Haus in Strasshof hätte nicht jahrelang das Gefängnis von Kampusch sein müssen. Bereits relativ kurz nach ihrem Verschwinden 1998 gab nämlich Christian P., ein Diensthundeführer der Polizei, den potenziell entscheidenden Hinweis, der den Fall schon nach Tagen hätte lösen können. Dass man seinen Verdacht abtat und er am Ende recht behielt, brachte ihn im Polizeiwesen nicht weiter.

P. ist nun unweit von Strasshof als Masseur tätig. Er soll nach der Selbstbefreiung von Natascha Kampusch von zwei Soko-Beamten besucht worden sein. Sie baten ihn, nichts über seinen Hinweis auf Priklopil zu sagen. Das dokumentierte die erste Untersuchungskommission zum Fall.

Beförderung trotz Fehlers

Thomas F., der Inspektor, der den Hinweis von P. nicht weiter verfolgen ließ, wurde Thema einer parlamentarischen Anfrage der FPÖ. Der Polizist, der auch ein Feriencamp für Kinder und Jugendliche betrieben hat, soll Kontakte zur Familie von Kampusch gehabt haben, behauptete die FPÖ. Ihm schadete seine Fehlentscheidung nicht. Er wurde 2018 ins Kabinett von Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) befördert.

Schon 2008 war nach Vorwürfen über Pannen und Ungereimtheiten in der Causa eine Evaluierungskommission unter der Leitung des Juristen Ludwig Adamovich eingerichtet worden. Er äußerte mit Johann Rzestut, Kommissionsmitglied und auch ehemaliger Höchstrichter, Zweifel an der Einzeltätertheorie. Rzeszut publizierte 27 Indizien, die er für bedenklich und aufklärungswürdig hielt. Dazu kam, dass der Polizei-Chefermittler Franz Kröll, der die Causa von 2008 bis 2009 untersuchte, 2010 seine Teilnahme an der Abschlusspressekonferenz von Staatsanwaltschaft und Polizei verweigerte und sich später das Leben nahm. Sein Suizid warf Fragen auf.

Unter anderem aufgrund eines 25-seitigen Berichts von Rzeszut über offene Fragen wurde die Causa schließlich 2010 noch einmal untersucht: von allen Parlamentsfraktionen im Unterausschuss des Innenausschusses. Unter der Leitung von Werner Amon (ÖVP) sprachen am Ende auch hier Vertreter aller Parteien von massiven Zweifeln, Ermittlungspannen und ungeklärten Fragen.

Man übergab den Fall an FBI-Ermittler und Beamte des deutschen Bundeskriminalamts. Offiziell war Priklopil bis heute ein Einzeltäter. Der Fall wird in mehreren Büchern und Filmen thematisiert. Kampusch ist heute als Schmuckdesignerin tätig. (cms, fsc, 2.3.2018)