Martin Pollack im KHM: Mit bloßen Händen ...

Foto: Helmut Wimmer

Habe ich nicht wunderbare Hände? Zarte, schlanke Finger, weich und weiß und ohne Makel? Wie geschaffen für leichte Handarbeiten, fürs Häkeln von Spitzen, zart und dünn wie Spinngewebe, prädestiniert zum Musizieren, Malen oder Zeichnen?

Dabei habe ich mit all diesen mädchenhaften Beschäftigungen nichts im Sinn. Ich liebe es, in der Erde zu graben und zu wühlen, mit meinen zarten Fingern, mit bloßen Händen, die sich dann in kleine Schaufeln verwandeln, wie bei einem Maulwurf. Ich liebe es, die Hände ins Erdreich zu bohren, tief hinein, um die Wärme und Beschaffenheit des Bodens zu spüren, die Konsistenz der Krume, einmal sandig und körnig, dann wieder lehmig und glatt, oft durchsetzt von kleinen und größeren Klumpen, die ich lustvoll zwischen den Fingern zerreibe und zerdrücke. Meine Finger sind zart, aber kräftig! Sogar sehr kräftig! Es ist ein schönes Gefühl zu spüren, wie die kleinen Unregelmäßigkeiten unter dem Druck meiner Finger nachgeben und zerbröseln. Manchmal stoße ich beim Graben auf einen Fremdkörper, auf etwas Hartes, Unbekanntes, das sich nicht zerdrücken lässt, dann halten die Finger irritiert inne und senden die Frage an mein Gehirn: Was ist das, was dem Zerreiben widersteht? Meist handelt es sich um unbedeutende Dinge, um ein Steinchen, ein Stückchen Holz, vielleicht einen kleinen Knochen, von einer Maus, einem Maulwurf, einem anderen Tier, das in meinem Gemüsegarten unbemerkt sein Grab fand, aus der Erde sind wir genommen, zu Erde sollen wir werden, Erde zu Erde, Asche zu Asche, Tiere wie Menschen.

Etwas Lebendiges zwischen den Fingern

Hin und wieder gerät mir auch etwas Lebendiges zwischen die Finger, ein Regenwurm zum Beispiel, der sich weich und feist windet, oder ein zappelnder Käfer, der in der Erde gewühlt hat wie ich, auf der Suche nach Beute, und nun beinahe selbst zur Beute geworden wäre. Doch keine Sorge, denen geschieht nichts, die kleinen Lebewesen behandle ich sorgsam und setze sie vorsichtig zurück in die umgegrabene, lockere Erde, in der sie gleich wieder verschwinden.

Das Graben und Wühlen in der Erde verschafft mir Befriedigung – und es macht Sinn, weil es von Vorteil ist, den Boden zu lockern, ehe man etwas anpflanzt, Salat und Kräuter, Paradeiser und Erdäpfel, Paprika und Melanzani. Alles gedeiht um ein Vielfaches besser, wenn das Erdreich von der eifrigen Gärtnerin gründlich umgewühlt wurde, das Unterste nach oben gekehrt. Mir bereitet es Freude, und der Boden hat es gern, wenn er belüftet wird. Das ist sonst die Aufgabe der Würmer.

Hin und wieder beschleichen mich bei dieser Tätigkeit allerdings seltsame Gedanken, die mir selber nicht geheuer sind: Was mag in meinem Garten alles liegen, was könnte zum Vorschein kommen, wenn ich nur ein wenig tiefer grübe? Einen Meter oder mehr. Wer weiß, so grüble ich hin und wieder, was unter der Erde schlummert und nur darauf wartet, von mir ans Tageslicht befördert zu werden? Will ich das wirklich freilegen, um es dem Vergehen und Vergessen zu entreißen? Ist es nicht vielleicht besser, manches im Boden zu belassen, unseren Blicken und Nachforschungen entzogen? Wenn ich darüber nachdenke, kommen mir die vielen Dinge in den Sinn, die meine eifrig wühlenden Hände schon bei oberflächlichem Schürfen aus dem Boden geholt haben: Tonscherben von Schmalztöpfen und anderem Steingut, Glasscherben, einmal ein dickwandiges Medizinfläschchen, nicht zerbrochen, rostiges Eisenzeug, krumme Nägel, ein halbes Hufeisen und sogar Münzen, allerdings keine Silberlinge, sondern aus Kupfer, mit Grünspan besetzt. Das alles lag höchstens eine Hand tief unter der Oberfläche, und ich hab gewiss keine großen Hände, sondern kleine, zarte Pfötchen wie ein Engel, hat meine Großmutter immer gesagt, wenn sie meine zierlichen Hände in die ihren nahm und zärtlich drückte, mein Engelchen, mein allerliebstes ...

Kleine, weiche Engelspfoten ...

Vor kurzem haben meine zierlichen Hände beim täglichen Graben etwas entdeckt, das ich anfangs nicht zu deuten wusste: ein unscheinbares, erdverkrustetes Stück Metall, geformt wie eine kleine Flasche. Nach mehrmaligem Waschen und Bürsten entpuppte es sich als Patronenhülse. Eine Patronenhülse! In meinem Garten! Unter meinen Salaten! Ein Bekannter, der sich mit diesen Dingen auskennt, stellte nach eingehender Untersuchung fest, dass es sich bei dem Fundstück zweifelsfrei um eine Geschoßhülse einer sowjetischen Maschinenpistole handelt, einer PPSch-41, allgemein bekannt als Pepescha, entwickelt von Georgi Semjonowitsch Schpagin, daher der Name. Ein zufälliges Relikt des großen Krieges. Scheinbar bedeutungslos, jedoch ein Hinweis, dass vor über siebzig Jahren in meinem Garten, wie überall in der Gegend, geschossen, gekämpft und wohl auch gestorben wurde. Auch gestorben. Das hat mir ein alter Nachbar erzählt, der schon damals hier gewohnt hat, als er mir einmal über den Zaun hinweg zuschaute, wie ich in der Erde wühlte. Grab nur nicht zu tief! Er wusste genau zu sagen, wo damals die Toten lagen, hier ein Russe, dort ein Deutscher, in deinem Garten, so sagte er damals, ist auch ein Deutscher gelegen, ein blutjunger Bursche.

Wo haben sie den blutjungen Burschen begraben? Er zuckte nur mit den Achseln. Wer wolle das schon wissen? Oft haben sie die Toten eilig verscharrt, vor allem wenn die Erde dort, wo sie lagen, weich war, zum Beispiel in einem Garten, der kurz zuvor umgegraben wurde. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Mein Nachbar ist im Sommer gestorben. Zu Allerseelen habe ich an seinem Grab eine Kerze entzündet. Auf dem Grabhügel, einstweilen noch ohne Stein, steht ein kleiner Engel aus Gips. (Martin Pollack, 4.3.2018)