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Führung auf Basis des Menschenbilds "Alle faul und unwillig"? Helmut Stadlbauer im Interview.

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Helmut Stadlbauer über den Zwölfstundentag: "Den großen Unterschied macht, ob Mehrarbeit selbstbestimmt oder verordnet ist."

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STANDARD: Wie schauen die Fortschritte auf dem Weg in eine weniger hierarchische, partizipativere Arbeitswelt aus Sicht eines Arbeitsmediziners, der seit 20 Jahren arbeitet, aus?

Stadlbauer: Ich erlebe einen zunehmend amerikanischen Führungsstil.

STANDARD: Was meinen Sie damit?

Stadlbauer: Eine Führung nach dem Grundprinzip: Menschen brauchen permanent Druck, weil sie von Natur aus faul sind. Ich meine eine Führung nach der Devise: Die Faulen bis zum Limit auspressen.

STANDARD: Gibt es da Branchenspezifika?

Stadlbauer: Ich kann hauptsächlich über die produzierende Industrie in Oberösterreich, über Konzernniederlassungen sprechen, aus der Menschen in Not in unsere Arbeitsmedizinischen Zentren kommen.

STANDARD: Welche Art von Not?

Stadlbauer: Es ist immer Verzweiflung, es nicht mehr zu schaffen, nicht mehr zu können.

STANDARD: Burnout-Symptomatik?

Stadlbauer: Ja, und es trifft meistens sehr, sehr loyale Mitarbeiter, die sich selbst in Dauerkonflikte und Dauerüberforderung bringen. Angst vor Job- und Statusverlust, letztlich vor Liebesverlust – meistens hat Burnout ja tiefe Wurzeln in der Kindheit, in der gelernt wurde, dass es Liebe nur gegen Leistung gibt – sind die Treiber, die das Ziehen von Grenzen und Neinsagen nicht möglich machen.

STANDARD: Individuell zu helfen ist eine Sache – wie sehr können Sie Systeme, also das Unternehmen und seine Kultur (oder Unkultur) beeinflussen?

Stadlbauer: Wir können Prozesse in Gang setzen und auf Strukturen und damit auf das Betriebsklima einwirken. Das dauert, aber wir sehen auch Erfolge. Am Beginn steht immer das Reden über die Thematik, weil meistens die unausgesprochene Regel gilt: Wer darüber redet, ist schwach und schafft es eh nicht mehr. Dann sind anonyme Mitarbeiterbefragungen ein Instrument, mit dem vieles sichtbar und besprechbar gemacht werden kann.

STANDARD: Helfen die Vorschriften des Arbeitnehmerinnenschutzgesetzes zur Evaluierung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz? Oder wird damit nur eine "lästige Pflicht" erfüllt?

Stadlbauer: Die Verpflichtung bringt einen systematischeren Zugang. Allerdings sehen wir messbare Veränderungen meist in den Unternehmen, die sich vorher auch schon mit betrieblicher Gesundheit befasst haben.

STANDARD: Auf Ihrer Homepage erscheinen Sie als Streiter gegen den geplanten Zwölf-Stunden-Arbeitstag. Was ist daran so schädlich? Tatsächlich ist es doch schon so oft so, dass ausgestempelt wird, um dem Arbeitszeitgesetz Genüge zu tun, und danach wird halt weitergearbeitet ...

Stadlbauer: Im Angestellten- oder Expertenbereich ist das etwas anderes als im Arbeiterbereich. Den großen Unterschied macht, ob Mehrarbeit selbstbestimmt oder verordnet ist. Ich habe einige Gutachten für Ausnahmen zur Arbeitszeitregelung gemacht – sogenannte Unbedenklichkeitserklärungen – und kann aus dieser Erfahrung heraus sagen: Bei einem Steuerberater, dessen junge Akademiker unbedingt ihre Projekte fertigmachen wollen und mehr Stress empfinden, wenn sie nach Hause gehen müssen, bevor etwas abgeschlossen ist, sieht das völlig anders aus als in einem Industriebetrieb, der zwölf Stunden anschafft.

Wer über Zeitsouveränität verfügt, merkt vielleicht keinen Unterschied. Wer dieses Privileg nicht hat, sehr wohl. Aus einem Zwölfstundentag wird dann außerdem leicht ein 14-Stunden-Tag. Mich stört vor allem, dass die bisher gültigen Hürden – Kollektivvertrag oder arbeitsmedizinisches Gutachten – weggeräumt werden.

STANDARD: So wie es angekündigt ist, bedeutet mehr Arbeit dann aber auch mehr Geld ...

Stadlbauer: Wir haben noch keinen Entwurf gesehen. Meiner Ansicht nach sollte es in jedem Fall auch die Möglichkeit geben, Zeitausgleich zu nehmen, also wählen zu können. Dramatisch wichtig ist das in Schichtbetrieben: Auch für Junge beträgt die Verausgabung bei Nachtschichten 156 Prozent der Tagschicht – das bedeutet, dass acht Stunden Nachtschicht so zehrend sind wie 13 Stunden Tagschicht. Der wirtschaftliche Vorteil der ausgedehnten Arbeitszeit wird insgesamt durch verringerte Produktivität in der zehnten bis zwölften Arbeitsstunde – das zeigen viele Untersuchungen – voraussichtlich zunichtegemacht werden. Von den volkswirtschaftlichen Kosten gar nicht zu reden. Wir wissen mittlerweile lange genug, dass der wirksamste Hebel, um Stress, Krankheit und Frühpension zu vermeiden, echte Wahlmöglichkeiten sind und lebensphasengerechtes Arbeiten. (Karin Bauer, 9.3.2018)