Psychiatrisch unterversorgte Schubhäftlinge oder nicht? Beim Polizeianhaltezentrum Vordernberg scheiden sich die Geister von Experten, Ministerium und Volksanwaltschaft.

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Auf die Teilnahme in der Arbeitsgruppe folgte umgehend das konkrete Angebot: Ob er nicht drei Stunden pro Woche ins Polizeianhaltezentrum Vordernberg kommen wolle, fragte das Innenministerium bei dem Wiener Arzt an. Sein Aufgabenbereich wäre es gewesen, den psychischen Zustand der 220 derzeit dort angehaltenen Schubhäftlinge festzustellen, erzählte er dem STANDARD. Der Arzt, der lieber anonym bleiben möchte, lehnte ab. Seine Begründung: "Um Menschen in Schubhaft richtig zu betreuen, wären viel mehr Ressourcen notwendig."

Was notwendig wäre, hat die Arbeitsgruppe Suizidprävention, bestehend aus Experten des Ressorts, der Volksanwaltschaft und aus Psychiatern, im November des Vorjahres ausgearbeitet. In dem internen Papier, das dem STANDARD vorliegt, heißt es unter anderem: "Um eine wirksame Kette der Prävention zu gewährleisten, ist es nötig, neben der Sensibilisierung von Gatekeepern eine rasch verfügbare fachkundige Begutachtungs- und Behandlungsmöglichkeit vorzuhalten."

Laufende Schulung

Dringend empfohlen wird unter anderem die Schulung des polizeilichen Personals – nicht nur während der Grundausbildung, sondern laufend, denn: "Nur durch Wiederholungen kann das erforderliche Wissen gefestigt und eine nachhaltige Sensibilisierung erreicht werden." Gelehrt werden soll dabei: wer die Risikogruppen sind; wie man Risikofaktoren erkennt; wie sich suizidale Gefährdungen entwickeln können und wie man mit suizidalen Krisen umgeht – auch mit den eigenen Empfindungen dazu. Denn das Wichtigste, betonen die Fachleute in ihrem Konzept für das Innenministerium, sei die Sensibilisierung des Personals: "Es soll sichergestellt sein, dass ein Bewusstsein zum Thema Suizid im Anhaltevollzug und im fremdenrechtlichen Verfahren geschaffen wird."

Bisher, so erzählen Mitglieder der Arbeitsgruppe, lasse das Bewusstsein darüber in Polizeikreisen häufig zu wünschen übrig. Gerade die Schubhaftzentren seien "psychiatrisch stark unterversorgt". Bei den Diskussionen in der Arbeitsgruppe sei es den Vertretern des Ministeriums vor allem darum gegangen, möglichst kostenschonend vorzugehen. "Dass man Geld in die Hand nehmen und zumindest klinische Psychologen, besser noch Psychiater, beschäftigen sollte, wurde nicht ernsthaft diskutiert."

Als Experten hat das Innenressort den Verein Dialog in die Arbeitsgruppe entsandt. Dialog ist Vertragspartner des Innenministeriums und kümmert sich um die Menschen, die in den Polizeianhaltezentren in Wien-Hernals und in der Rossauer Kaserne angehalten werden. Erstaunlich dabei: Der Verein besteht seit 1979 und ist auf individuelle Suchthilfe spezialisiert – mit von Abschiebung bedrohten geflüchteten Menschen hat man dort eher weniger zu tun.

Dabei ist das Thema Suizid ein akutes Problem – gerade unter Haftbedingungen. Suizide zählen zu den häufigsten Todesursachen in Gefängnissen, 30-mal häufiger passieren Suizidversuche. Aus diesem Grund ist die Prävention in Haftanstalten ein weltweites, von der Weltgesundheitsorganisation WHO priorisiertes Ziel. Schubhaft ist nochmals eine Ausnahmesituation. Hier werden Menschen festgehalten, die in den meisten Fällen schon auf ihrer Flucht nach Österreich traumatisiert wurden – um deren Traumata sich aber bislang niemand professionell gekümmert hat.

Im Konzept der AG Suizidprävention sind denn auch im Punkt "situative Faktoren" (die zum Suizid führen können) unter anderem aufgelistet: politische Verfolgung, Verfolgung wegen Anderssein, Flucht, als ungerecht empfundene Verhaftung oder Anhaltung.

Eine Nachfrage bei dem für Polizeianhaltezentren zuständigen Volksanwalt Peter Fichtenbauer (FPÖ) ergibt zweierlei: Erstens prüfe die Volksanwaltschaft im Rahmen ihrer Aufgabe, präventive Menschenrechtskontrollen durchzuführen, auch die Polizeianhaltezentren regelmäßig.

In Wien und in Salzburg habe man, auch im Hinblick auf Suizidprävention, noch nichts beanstandet – zuletzt allerdings in Vordernberg bei einer Prüfung Anfang November sehr wohl. Was da nicht gepasst hat, wollte die Geschäftsbereichsleiterin von Volksanwalt Fichtenbauer, Martina Cerny, nicht im Detail verraten. Nur so viel: "Es kann manchmal auch schlicht um bauliche Maßnahmen gehen."

"Laufende Korrespondenz"

Dass es grundsätzlich eine psychiatrische Unterversorgung in Schubhaftzentren gebe, will man bei der Volksanwaltschaft so nicht behaupten, auch nicht, dass die Suizidgefahr in Schubhaft besonders hoch sei. Das Innenministerium habe der Volksanwaltschaft im Prüfzeitraum von sieben Suiziden bzw. Suizidversuchen berichtet. Da sei die Rate in normalen Haftanstalten weit höher, sagt Cerny.

Was die Beanstandungen betrifft, sei man mit dem Innenministerium "in fortlaufender Korrespondenz". Was das genau bedeutet und ob das Ministerium bereit sei, in Sachen Suizidprävention mehr zu tun, könne man noch nicht sagen. Cerny: "Menschenrechtsarbeit funktioniert nicht von heute auf morgen. Das ist ein langer Prozess." (Petra Stuiber, 6.3.2018)