Wien – Eine "grundsätzliche Fehlschaltung" bescheinigte Richter Christoph Bauer vergangenen Herbst einem 55-jährigen Wiener, bevor er ihn zu fünf Jahren Haft verurteilte. Der 55-Jährige missbrauchte über neun Jahre hinweg seinen unmündigen Neffen, mit dem er im selben Haushalt in Wien-Floridsdorf lebte.
Dominik Kucher* war fünf, als das Martyrium begann. Der heute 25-jährige wuchs bei seinen Großeltern auf. Seine Mutter, die sich selbst nicht um ihn kümmern konnte, sah er jedes zweite Wochenende. Als er als Fünfjähriger seinen Opa leblos vorfand, verlor er seine wichtigste Bezugsperson. Verlustängste und Trauer brachten ihn dazu, Zuflucht bei seinem Onkel zu suchen, der ihn bei sich im Bett schlafen ließ. Von da an wurde er regelmäßig vom Bruder seiner Mutter missbraucht. Als Dominik 14 war, endete die Qual – zumindest zum Teil. Von seiner Großmutter wurde er weiterhin mit einem Kochlöffel geschlagen.
Angst, eine Anzeige zu wagen
Vor zwei Jahren kam es zu einem Wendepunkt in Kuchers Leben, als er sich seinem besten Freund anvertraute. Vom Gespräch ermutigt, entschied er sich mit 24, seinen Onkel anzuzeigen und sich von seiner Familie zu lösen. "Ich habe ein halbes Jahr lang hin und her überlegt, ob ich es machen soll", sagt Kucher im Gespräch mit dem STANDARD. "Ich hatte Angst, dass ich den Schritt wage und mir dann niemand glaubt."
Für Gewaltopfer wie Kucher gibt es die Möglichkeit, sich auf Staatskosten juristisch und psychologisch unter die Arme greifen zu lassen. Damit soll sichergestellt werden, dass die Rechte der Opfer während des Verfahrens nicht zu kurz kommen und sie mit den psychischen Belastungen nicht alleine dastehen. Auch Kucher nahm die Möglichkeit der Prozessbegleitung in Anspruch; juristisch wurde er von der auf Opferschutz spezialisierten Anwältin Barbara Steiner vertreten, auf der psychologischen Ebene kümmerte sich die Männerberatung um den 25-Jährigen. "Es konnte nicht besser laufen", sagt Kucher. "Ich wurde das ganze Jahr über nicht alleine gelassen."
Vor dem Prozess hatte Kucher Herzrasen, Magenschmerzen, ihm war schlecht. "Man muss dem Gericht sein ganzes Leben erzählen, und die urteilen darüber, ob man die Wahrheit sagt", meint Kucher. Da frage man sich dann: "Was ist, wenn es an dem Punkt jetzt scheitert?" Am Anfang wollte Kucher in Anwesenheit seines Onkels aussagen: "Ich wollte, dass er hört, was er mir angetan hat." Davon hat ihm seine Anwältin aber abgeraten.
Aussage in Abwesenheit des Peinigers
Unter Experten ist man froh, dass diese Option mittlerweile überhaupt zur Auswahl steht. Dass es die Möglichkeit einer kontradiktorischen Vernehmung bei Gericht gebe, sei eine große Errungenschaft, sagt Monika Ohmann. Die Juristin und Sozialarbeiterin, die bei der Kanzlei Plaz tätig ist, kennt die Situation bei Gericht und die der Opfer genau: Früher begleitete sie Opfer in psychosozialer Hinsicht, heute auf der juristischen Seite. Bei dieser Art der Vernehmung wird die Aussage auf Video aufgenommen und im Hauptverfahren vorgespielt. "Damit nicht noch einmal die persönliche Konfrontation notwendig ist", sagt Ohmann.
Kucher sagt, im Nachhinein verstehe er, warum auch seine Anwältin ihn dazu bewegt habe, sein Recht darauf, in der Abwesenheit seines Peinigers aussagen zu können, in Anspruch zu nehmen. "In Wirklichkeit weiß ich nicht, wie ich dann reagiert hätte."
Zusätzlich zu den fünf Jahren Haft wurde Kuchers Onkel, dessen Neffe noch bis heute an den psychischen Folgeerscheinungen leidet, noch zu 15.000 Euro Schadensersatz und Schmerzensgeld verurteilt. Die 15.000 Euro will Kucher spenden. Die Höhe der Strafe ist ihm ziemlich egal: "Es geht mir darum, dass schwarz auf weiß festgehalten wurde, dass er einen Fehler gemacht hat", sagt Kucher. "So kann man leichter abschließen."
An der aktuellen politischen Diskussion stört ihn, dass nur über die Strafhöhe diskutiert wird. "Klar, eine Strafe gehört her", sagt der 25-Jährige. "Aber zufrieden bin ich nicht damit, dass er jetzt ein paar Jahre im Gefängnis die Wand anstarrt, dann rausgeht, und das war's." Kucher wünscht sich mehr Therapieplätze und dass sein Onkel darüber nachdenken müsse, warum er das gemacht hat. Bei der Hinterfragung des Motivs gehöre angesetzt: "Man muss auch die Sache hinter der Sache betrachten. Niemand kommt als Sexualstraftäter auf die Welt."
Kritik an veralteter Technik
Gerade bei Erwachsenen, die als Kinder Opfer von Missbrauch wurden, komme ganz oft die Frage auf, was eine gerechte Strafe wäre, sagt Expertin Ohmann: "Ich habe noch nie gehört, dass jemand dezidiert gesagt hätte: Es müssen genau vier Jahre oder acht Jahre unbedingt sein." In der Diskussion rund ums Strafrecht bloß "Hängt ihn höher!" zu schreien greife zu kurz. Vielmehr müsse man sich anschauen, wie Richter derzeit zur Strafbemessung kommen, was unbedingt verurteilt werde und warum: "Das wird aber alles nicht beachtet."
Außerdem würde sich Ohmann wünschen, dass auch diejenigen Probleme ins Zentrum gerückt würden, an denen Verfahren manchmal wirklich scheitern: etwa an veralteter Technik bei der Videoaufnahme für die kontradiktorische Einvernahme. "Wenn das nicht funktioniert, kann das gerade kleine Kinder massiv irritieren, die die Aufmerksamkeit sowieso nicht so lange halten können", weiß Ohmann. "Auch die Schöffen können sich kein gutes Bild machen von der Zeugin oder dem Zeugen, wenn das Abspielen des Videos nicht funktioniert und das Protokoll nur verlesen wird."
Kucher hat lange überlegt, ob er mit seinen Erlebnissen an die Öffentlichkeit gehen möchte. Wenn er auch nur einem Menschen dadurch Mut zusprechen könne, habe er "das Größte geschafft", sagt er. (Vanessa Gaigg, 13.3.2018)