Martin Alioth ist froh, dass er endlich einen ordentlichen Greißler in Dublin gefunden hat.

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Die Skyline von Dublin, davor die Samuel Beckett Bridge.

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Shopper auf der Grafton Street

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Die goldgelben Pilze sind wahlweise mit "Chanterelles" oder "Giroles" angeschrieben, denn es gibt – bezeichnenderweise – kein englisches Wort für Eierschwammerl. Aber immerhin: Hier, im europäischen Schlaraffenland für Feinschmecker, bei Fallon & Byrne an der Exchequer Street in der Dubliner Innenstadt, gibt es wenigstens Eierschwammerl. Die sucht man sonst in Irland vergeblich, obwohl das Klima den Pilzen ja wohlgesinnt wäre.

Eine Anekdote aus den 1980er-Jahren besagte, der irische Geheimdienst habe Angehörige der russischen Botschaft auf verdächtigen Exkursionen in die Wicklow-Berge beschattet, wo auch ein Exerzierplatz der irischen Armee liegt. Schließlich stellte sich heraus, dass die Sowjets bloß Schwammerl suchten; die irischen Agenten waren perplex.

Gewisse Geringschätzung

In nahezu jeder anderen europäischen Hauptstadt gäbe es dutzende von Viktualiengeschäften vom Schlage eines Fallon & Byrne. Doch in Dublin bleibt der Delikatessenhändler ein Pionier. Wo sonst sollte man frischen Brüsseler Salat (englisch: Chicory) erhalten? Oder Kartoffeln, die der irischen Vorliebe für mehlige Knollen widersprechen? Hierzulande werden diese seltenen Kartoffelsorten als "seifig" oder "wächsern" bezeichnet, was sprachlich zwar einsichtig ist, aber von einer gewissen Geringschätzung zeugt.

Das große Backsteingebäude ist wohl mehr als hundert Jahre alt. Die Sonnensegel über den Fenstern verkünden schon kontinentaleuropäisches Flair. Und so erhält man hier denn auch Carnaroli, Arborio oder Vialone – die wichtigsten Risotto-Sorten auf einem Regal. Beim Fleischhauer gibt es selbstgemachte Hamburger aus Wildbret, unter den Käsespezialitäten gar zwei verschiedene Appenzeller.

Metabolische Notwendigkeit

Auch nach nahezu 35 Jahren in Irland regen sich mitunter kulinarische Erinnerungen und Sehnsüchte, die nur bei Fallon & Byrne befriedigt werden können. Ein Schweizer Gaumen wird nie gänzlich irisch werden. Dabei sind die Iren in diesen Jahrzehnten meilenweit gereist. Anfänglich offerierten irische Supermarktregale bloß zehn Laufmeter identischen Cheddarkäse. Eine Bekannte behauptete einst scherzhaft: "Ich kann mich erinnern, als Joghurt erfunden wurde."

Restaurants boten Hamburger oder Hühnerbrüste mit Knoblauchfüllung an. Die Nahrungsaufnahme wurde kaum als Genuss behandelt, sondern als metabolische Notwendigkeit. Quantität wurde entschieden höher eingeschätzt als Qualität, und kein respektables Hotel wagte es, einen Sonntagslunch mit weniger als drei verschiedenen Kartoffelsorten anzubieten.

Es wird besser

Von diesen Zuständen hat sich die Republik verabschiedet. Irland ist eindeutig europäischer geworden. Restaurants aller Schattierungen bieten alle denkbaren Speisen an, Supermärkte bedienen die Vorlieben mitteleuropäischer Einwanderer und verkaufen polnisch beschriftete Wurstsorten.

Aber Fallon & Byrne bleibt einzigartig. Nur hier kann man mit dem ellenlangen Rezept für eine französische Fischsuppe des Typs Bouillabaisse eintrudeln und findet sämtliche Ingredienzen – frisch und knackig. (Martin Alioth, RONDO, 15.3.2018)