Whiteread formte keine Treppe, sondern den Raum darunter: "Untitled (Stairs)" von 2001.

Foto: © Tate 2017

Rachel Whitereads Holocaust-Mahnmal auf dem Wiener Judenplatz.

Foto: Johannes Stoll, © Belvedere, Wien

Wien – Von "fünf Jahren Hölle" spricht Rachel Whiteread, 55, in Interviews immer wieder, wenn sie sich an das lange Ringen um ihr Wiener Holocaust-Mahnmal erinnert. Und davon, dass sich seit ihrem letzten Besuch hier wenig geändert hat. 2000 war das, im ersten Jahr der schwarz-blauen Regierung, als die Bibliothek des Schweigens der britischen Bildhauerin nach langem bürokratisch-politischem Gerangel sich endlich doch auf dem Judenplatz manifestierte.

Whiteread gab dem nicht Fassbaren einen greifbaren Körper. Zugleich entzog sie uns aber etwas in ihrer skulpturalen Geste: Die ins dunkle Innere ihres verschlossenen Blocks gekehrten Buchrücken verbildlichten die für immer verlorenen Identitäten und Narrative der 65.000 ermordeten Juden.

"Verzweifelt" über Polemiken

Die langwierigen und oft genug polemischen Kontroversen hätten sie "angegriffen, traurig und verzweifelt gemacht", gestand sie damals. Whiteread blieb Österreich fern. Bis letzten Herbst. Am Tag nach ihrer Abreise wurde die rechte FPÖ neuerlich in die Regierung gewählt, stellte sie fest.

Der monumentale Kubus aus Beton – einem Material, dem man einst auch absprach, genug Würde für eine solche Aufgabe zu besitzen – ist so etwas wie ein physisch abwesender Mittelpunkt der zeitlich im Gedenkjahr platzierten Rachel-Whiteread-Retrospektive im 21er-Haus (Belvedere 21). Nicht nur, weil das Mahnmal den heimischen Betrachtern eine geläufige Referenz ist, eine Sehhilfe im Blick auf das von Abgüssen realer Gegenstände bestimmte OEuvre der Künstlerin, sondern auch, weil Whiteread es als wegweisend für ihre weitere Karriere bezeichnet.

Kolossale Schwere

Es folgten große Aufträge für den öffentlichen Raum: 1998 für das MoMA in New York Water Tower, 2001 Monument auf dem Londoner Trafalgar Square. 1997, also kurz nach dem Beschluss für ihr Mahnmal in Wien, wurde sie auch zum zweiten Wettbewerb für das Holocaust-Mahnmal in Berlin geladen. Nach den hiesigen Erfahrungen ist sie heute vielleicht sogar froh, dass daraus nichts geworden ist.

Die kolossale Schwere ihrer Wiener Setzung findet in der Ausstellung, die gemeinsam mit der Tate Britain und der National Art Gallery in Washington organisiert wurde, aber ihre Stellvertreter: etwa im Gipsabguss jenes Raumes, der sich unter einer Treppe befindet. Ein Leerraum, den wir als selbstverständlich nehmen und der – wird er sichtbar – die Erinnerung an das Abwesende, dessen Negativform er ist, weckt. Das Abwesende ist in diesem Fall eine Stiege in Whitereads 1999 gekauftem Haus im Londoner East End: eine Synagoge, die zuletzt als Textillager gedient hatte und deren Oberflächen sie "nach Geschichten durchkämmte". Whiteread: "Ich wollte das Haus kartieren."

Das ist das Zentrale ihres Schaffens, ihres Abgießens und Abklatschens in Kunstharz, Beton, Gips, Gummi, Wachs: die Idee der sich in Räume einschreibenden Spuren, nicht unbedingt der materiellen, sondern der atmosphärischen. Das Volumen von Wärmflaschen und Badewannen vergegenwärtigt Körper und Biografien; Betten, Bahren, Türen, Treppen symbolisieren Orte des Übergangs von einem Zustand in den anderen. Als Whitereads Vater starb, goss sie den Raum unter seinem Bett ab. Ein Memento mori. Sie materialisiert die Luft, die die Bretter unter unseren Füßen küssen, wenn sie wie 1994 im Münchner Haus der Kunst die Holzmaserung von der Unterseite der Dielenbretter in Kunstharz verewigt.

Vorläufer dafür sind nicht fern: Vom Raum unter meinem Stuhl von Bruce Nauman bis zu Beuys, der in Unschlitt das Volumen eines von Obdachlosen genutzten Unraums einer Unterführung abformte. Von dort ist es nicht weit zu Whitereads House (1993), jenem Londoner Reihenhäuschen, das Whiteread, bevor es der Gentrifizierung zum Opfer fiel, in Beton ausgoss. Es blieb nur vorübergehend als Negativform stehen. Sie erhielt dafür als erste Frau den Turner-Preis. Am gleichen Tag beschloss man den Abriss dieses architektonischen Gespensts.

Dem Abwesenden verleiht Whiteread eine Haptik. Eine Haptik der Sehnsucht, denn ihre hier präsentierten Objekte aus den letzten 30 Jahren sind nicht zum Berühren gemacht. Ein Umstand, der die Wahrnehmung nicht weniger intensiv macht. Er befeuert vielmehr die Bildmetaphern. (Anne Katrin Feßler, 7.3.2018)