"That's the way I like it baby, I don't wanna live forever!" Virginia Despentes beruft sich in ihrem Schreiben weniger auf literarische Vorbilder als auf Rock-'n'-Roll-Wüstlinge wie Motörheads Lemmy Kilmister. Das bedeutet: hohes Betriebstempo.


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Es ist schon wahr, mit Ende 40 kann man nachts oft nicht mehr so gut schlafen. Man liegt wach und macht sich Sorgen. Die ökonomische Krise, der langsame, aber sichere Zerfall des Sozialsystems, das Ende des Generationenvertrags und der ganze Rest vom in jungen Jahren nicht einmal erahnten Erwachsenenscheiß, die uns allen die guten Träume rauben, spitzen sich hin zur Angst vor der Altersarmut zu.

Hinzu kommen dann noch die am eigenen Körper und Charakter beobachteten Verfallserscheinungen. Die Haut wird schlaff, der Blick wird müde. Es zwickt und zwackt – und die Drogen, die eventuell an der ganzen Misere nicht ganz unbeteiligt sind, sie wirken auch nicht mehr wie früher.

Es ist genau dieser verzweifelte Zustand am Übergang vom Verschwenden der mit sturer Unvernunft verlängerten Jugend hin zur Einsicht, dass mit den "besten Jahren" die wirklich großen Probleme erst anfangen, der die Romantrilogie Das Leben des Vernon Subutex der französischen Autorin Virginie Despentes gegenwärtig zum internationalen Bestseller macht. Despentes (49) hat biografisch obendrein eine zünftige Biografie vorzuweisen: Drogen, Prostitution, Rock 'n' Roll, Autorin des von ihr selbst verfilmten pornografischen Roadmovies Baise-moi – Fick mich!. Houellebecq auf hart.

Warten auf das Ende

Der zweite Teil dieser nun auf Deutsch vorliegenden, möglicherweise gar nicht einmal so fiktiven gesellschaftlichen Verfallsbiografie um den abgehalfterten Titelhelden beginnt mit besagter Schlaflosigkeit. Vernon kann nachts vor allem aber nicht mehr so gut schlafen, weil er nach seiner Wohnungspfändung und dem Verkauf all seines Hab und Guts obdachlos geworden ist.

Er wäre in der Kälte delirierend beinahe an einer Grippe abgekratzt und muss sich nun mit anderen Sandlern um Parkbänke streiten. Schließlich findet er in einer Einfamilienhausruine in einem Pariser Vorort Unterschlupf und wartet, sich seinem Schicksal ergebend, auf das Ende.

Vernon Subutex ist Ende 40 und ehemaliger Besitzer eines Plattengeschäfts. Gegen ihn wirkt sein literarischer Vorgänger, Protagonist Rob Fleming aus Nick Hornbys High Fidelity von 1995, wie ein souveräner Lebenskünstler. Vernon sitzt nach dem Ende seiner Existenzgrundlage wegen Musikstreaming und Youtube also nach der Odyssee über diverse Sofas seines Bekanntenkreises in Teil eins auf der Straße. Dort trifft er in Gestalt trostloser, aber durchaus noch zu sozialen Gefühlen fähiger Leidensgenossen zumindest auf normalere Menschen als jene aus seiner alten sozialen Blase.

Vom Crack zur Kamille

Die wird ihn dann zwar bald wieder einholen und – vorläufig? – aus der Not retten. Ob ihm der alte Umgang aber guttut? Es handelt sich schließlich um eine erlesene Mischung aus Menschen, die nicht unbedingt eine bürgerliche Erwerbsbiografie aufzuweisen haben: zynische Drogenwracks aus der Musikbranche, dazugehörige Dealer, Cyber-Mobberinnen und (haha!) Journalistinnen. Weiters noch Pornostars, die sich "Pamela Kant" oder "Vodka Santana" nennen, oder Filmproduzenten, die sich wie eine Karikatur Harvey Weinsteins ausnehmen. Besonders böse in dieser schnoddrig erzählten Tour de force: Charles, der Teilzeit-Clochard, der einen Lottosechser verschweigt, um sein Leben nicht ändern zu müssen – oder Aisha, die zum Islam konvertierte, nachdem sie von der Pornovergangenheit ihrer Mutter erfuhr.

Das alles macht bis zum Finale, das im September erscheinen wird, schließlich Zwischenstation bei ein klein wenig Hippie-Shit, bei juvenilen Tanzveranstaltungen und der Hoffnung, Erlösung auch im Alter finden zu können. Aber: "Das Problem mit der Erlösung ist, dass es sich anfühlt, wie von Crack auf Kamille umzusteigen: Man ahnt, dass es ganz toll ist, aber im Moment ist es erst einmal viel weniger lustig." (Christian Schachinger, 8.3.2018)