Wien – Finley ist auf dem besten Weg, ein wahrer Experte für Geparden zu werden. Über drei von sieben Fragen über das Leben und Verhaltensspezifika der schwarz gefleckten Großkatzen hat der Neunjährige bereits nachgedacht und die entsprechenden Antworten jeweils in Schönschrift auf einem A4-Blatt festgehalten.
Nino, ebenfalls in der dritten Schulstufe, sitzt konzentriert daneben. Er will sich heute ans Rechnen machen, denn morgen dürfe er bei der Matheschularbeit gemeinsam mit den Viertklässlern mitmachen. "Das ist super, da können wir für nächstes Jahr üben", erklärt er. Für die Mädchengruppe am wabenförmigen Holztisch hinter ihm – allesamt Schülerinnen der vierten Klasse Volksschule – wird die Lehrerin schon diesmal eine Note unter die Schularbeit schreiben.
Klingt verwirrend? Ist es auch. Aber nur für Besucher, die mit der Organisation einer reformpädagogischen Mehrstufenklasse (MSK) nicht vertraut sind. Den klassischen Schulalltag gibt es hier nicht. Vier Jahrgänge in einem Klassenraum lassen kein "Wir schlagen jetzt alle das Textbuch auf Seite 10 auf" zu.
Seit 18 Jahren gehört es zum Arbeitsalltag von Michaela Schüchner, dass sie alle paar Minuten in ein neues Themengebiet eintauchen muss. Ein bisschen Silbenklatschen mit den Erstklässlern, den Viertklässler beim Lesenüben mit dem jüngeren Mitschüler unterstützen, schnell drei Divisionen für den wissbegierigen Drittklässler erfinden. Zwischendurch zur Ruhe mahnen und Annabell den Klogang erlauben. Die Zweitklässler benötigen bei der Arbeit auf dem Rechenteppich gerade keine Hilfe.
Individuell Lernen
Wienweit gibt es insgesamt 117 solcher altersgemischter Klassen wie hier an der Wiener Sprachheilschule im dritten Bezirk. Was sie neben der Altersdurchmischung der insgesamt knapp 3000 Kinder auszeichnet: reformpädagogischer Unterricht, also stark individualisiertes Lernen, etwa mithilfe von Montessori-Materialien. Dafür stehen insgesamt elf zusätzliche Volksschullehrerstunden pro Woche zur Verfügung.
Was bisher großflächig im Schulversuch erprobt wurde, ist seit der, noch von der rot-schwarzen Vorgängerregierung beschlossenen, Bildungsreform Teil des Regelschulsystems. An sich würde das für den Erfolg des Mehrstufensystems sprechen. Das 20-Jahr-Jubiläum begehen die Pionierinnen des Schulmodells diese Woche dennoch nicht ganz ungetrübt: Man macht sich Sorgen, dass die zusätzlichen Personalressourcen mit dem Abhandenkommen des Siegels "Schulversuch" verloren gehen und damit das ganze Konzept ad absurdum geführt werden könnte.
Die bevorstehende Pensionierungswelle von Lehrkräften in Kombination mit stetem Bevölkerungswachstum in der Hauptstadt machen auch Frau Schüchner Kopfzerbrechen: "Sollten dann auch noch die angekündigten Deutschklassen kommen, wird man auch dort mehr Lehrkräfte brauchen." Was das für den Personalschlüssel der Mehrstufenklassen bedeuten würde, bleibt bisher noch vage. Zumindest für das kommende Schuljahr gibt Stadtschulratspräsident Heinrich Himmer Entwarnung: "Wir müssen und wollen uns das leisten." Alles Weitere hänge davon ab, welche Mittel der Bund im Rahmen der Finanzausgleichsverhandlungen künftig zur Verfügung stelle.
Von 18 auf elf Stunden
Anfangs, vor 20 Jahren, da konnte man als Pädagogin in einer Mehrstufenklasse noch für 18 Stunden zu zweit in der Klasse stehen. In Frau Schüchners Fall ist man personell auch heute noch ganz gut aufgestellt: Fünf Kinder mit sprachheilpädagogischem Förderbedarf gewährleisten, "dass wir immer mindestens zu zweit hier sind". Die elf Lehrerstunden, die speziell für den jahrgangsübergreifenden Unterricht vorgesehen sind, kommen in ihrem Fall extra dazu.
Mit Alice Volf bildet Frau Schüchner bereits seit 18 Jahren ein Team, seit fünf Jahren ist Stephan Nausner als dritte Lehrkraft mit an Bord. Er hat davor in einer altershomogenen Volksschulklasse unterrichtet. Jetzt bilanziert er bei Kaffee und Jausenbrot: "Eigentlich ist jede Klasse eine Mehrstufenklasse." Nur sei das Faktum, dass manche Kinder etwas langsamer lernen und andere etwas schneller, dass Lernen eben oft nicht im Gleichschritt erfolgt, "bei uns in der MSK im System berücksichtigt".
Beurteilt wird bis zum Ende der dritten Schulstufe anhand eines ausführlichen Eltern-Lehrer-Schüler-Gesprächs. Vom Plan des Bildungsministers, ab Herbst wieder Ziffernnoten ab der ersten Schulstufe einzuführen, hält man hier naturgemäß wenig: Dadurch würde sich das Verhältnis der Kinder untereinander verändern, glaubt Pädagogin Volf, denn "momentan haben sie keine Möglichkeit, sich untereinander zu vergleichen".
Starre Rollenzuordnungen gibt es in Mehrstufenklassen nicht. Jedes Kind erlebt sich mal als Helfender, mal als derjenige, der Hilfe braucht. Aber nicht nur das Lernen macht den Kindern der Mehrstufenklasse Spaß. "Ich mag am liebsten Ordnen und die Hüpfburg", sagt Annabell verschmitzt. Christoph liebt das Kämmerchen mit dem CD-Player: "Da können wir Musik hören in der Pause. Mein Lieblingslied ist Despacito!" (Karin Riss, 9.3.2018)