Es ist laut an diesem sonnigen Tag in der Leibnizgasse im zehnten Wiener Bezirk. Gleich neben dem Viktor-Adler-Markt haben sich Standler eingefunden, die ihre Ware anpreisen. "Ein Kilo Erdbeeren zwei Euro!", hört man an einer Ecke, "Tomaten, Tomaten – yalla, yalla", gleich daneben. Die Stimmung ist gut, viele Verkäufer kennen ihre Kunden, kommen ins Plaudern. "Bis zum nächsten Mal", verabschiedet sich eine ältere Dame, "Baba, mein Schatz", gibt der Gemüseverkäufer zurück, bevor er einen anderen Kunden auf Türkisch begrüßt.

Ludwig traf Botschafter

Die Szene ist das genaue Gegenteil des im Video des ungarischen Kanzleramtsministers János Lázár Behaupteten, in welchem er – untermalt von trauriger Musik – die Straßen von Favoriten zeigt. Schmutzig, arm und kriminell sei Wien geworden. Der Grund dafür: Zuwanderer. Mittlerweile hat sich Lázár für seine Aussagen entschuldigt, er habe keinen Wiener beleidigen wollen. Diese Entschuldigung begrüßt auch Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP).

Was Bewohner und Besucher von Favoriten über die Aussagen des ungarischen Kanzleramtsministers denken.
DER STANDARD

Wiener Politiker haben die zum Höhepunkt des ungarischen Wahlkampfs getroffenen Aussagen stark kritisiert, allen voran der künftige Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ), der am Donnerstag den ungarischen Botschafter zu einem "sehr freundschaftlichen Gespräch" traf. Die Darstellung im Video sei "schlichtweg falsch", sagt Ludwig. Seine Parteikollegen beschrieben Favoriten als "wunderschön" und als "einen der beliebtesten Bezirke".

Styria

Die Wahrheit dürfte irgendwo dazwischen liegen, das erzählen zumindest viele Menschen, die am Donnerstag auf der Favoritenstraße unterwegs sind. "Ich wohne seit 30 Jahren hier, bin aber in der Türkei geboren und damit quasi Ausländerin", sagt Belgin. Die Aussagen Lázárs halte sie dennoch für teilweise richtig. "Das Stadtbild hat sich verändert. Ich finde, es sind mittlerweile zu viele Fremde hier." Das mache ihr Angst – vor allem was ihre Söhne betrifft. Die Arbeitslosigkeit und die Kriminalität seien hoch, Perspektiven gebe es nicht viele.

Schwaches Abschneiden im Bezirksvergleich

Tatsächlich schneidet Favoriten im Vergleich mit anderen Bezirken in vielen Punkten schlecht ab: Das Pro-Kopf-Einkommen (18.289 Euro Jahresnetto) ist nur im 15. und im 20. Bezirk niedriger, in keinem anderen Bezirk gibt es mit 35 Prozent eine derart große Menge an Bewohnern, die maximal einen Pflichtschulabschluss haben.

Als Problembezirk gilt Favoriten, das mit 198.000 Einwohnern mittlerweile die drittgrößte Stadt des Landes wäre, freilich nicht erst seit dem ungarischen Wahlkampfvideo. Die Besucher des "Schmankerl Treff Prokes" am Viktor-Adler-Markt halten deswegen nicht viel von Lázárs Aussagen. "Ich kann mich noch erinnern, dass es einmal hieß, Wien darf nicht Chicago werden", erzählt ein Besucher zwischen zwei Schlucken Spritzwein. Er komme aus dem 23. Bezirk, sei aber mindestens viermal pro Woche "beim Berndi". Das Lokal ist schon am Vormittag voll. Es wird geraucht, getrunken und gelacht. "Zuwanderer gibt es überall und seit langer Zeit – auch in Ungarn, da bin ich öfter. Man darf aber nicht alle in einen Topf werfen", sagt der Pensionist.

Reges Treiben in der Leibnizgasse im zehnten Bezirk – Verkaufsschlager sind am Donnerstag vor allem Erdbeeren. Von dreckigen Straßen keine Spur.
Foto: Andy Urban

Der von Belgin beschriebene Eindruck täuscht nicht: Der Ausländeranteil (im Ausland geboren und/oder ausländische Staatsangehörigkeit) liegt im zehnten Hieb – ähnlich wie im zweiten, 15. und fünften Bezirk – aktuell bei 47 Prozent, vor fünf Jahren waren es noch knapp 30 Prozent.

Ein buntes Bild

Jene, die diese Zahlen positiv interpretieren wollen, sprechen von gelungenem multikulturellem Zusammenleben und dem Reiz dieses Bezirkes. So etwa die Kärntnerin Yasmin, die zwar seit 1986 in Wien lebt, aber erst seit gut zwei Wochen in Favoriten. "Ich werde mich sicher anfreunden mit dem Bezirk. Er ist multikulturell, und es spielt sich sicher einiges auf den Straßen ab. Das Bild auf der Favoritenstraße war immer schon bunt, und das wird auch so bleiben."

Otto, seit 45 Jahren in Favoriten, sieht das ganz anders: "Man braucht sich nur die Geschäfte anzuschauen. Auf der Quellenstraße befinden sich hauptsächlich türkische Geschäfte. Ich finde hier kein Gasthaus, wo ich essen gehen kann", sagt der Pensionist, während er beim Fleischhauer in der Warteschlange steht. Am meisten würden ihn aber "die Schmierereien und die vielen Plakate überall" stören. Da müsse man etwas unternehmen. Bei der Frage, was ihm am Bezirk gefalle, muss er lange nachdenken. "Gewonnen hat der Bezirk mit der Verlängerung der U-Bahn, und die vielen Parks sind natürlich auch wunderschön. Es ist nicht alles schlecht."

Am Viktor-Adler-Markt ist die Stimmung zum Video aus Ungarn gemischt: Zwischen Multikulti und Überfremdung.
Foto: Andy Urban

Dass dieses Grätzel ein sehr buntes ist, wird an diesem Vormittag jedenfalls deutlich: Gleich neben einer Gruppe älterer Herren, die sich über eine serbische Zeitung bücken, hat ein Musiker seine Panflöte ausgepackt. Vis-à-vis dem Kebabstand werden Käsekrainer verkauft, und wer Lust auf Süßes bekommt, hat die Qual der Wahl zwischen Krapfen, Baklava und Donuts. Und: Die Straßen sind entgegen Lázárs Beschreibung äußerst sauber. "In den letzten Tagen war es aber dreckiger", sagt Yasmin.

Für den 13-jährigen Tarik ist Hundescheiße das größte Problem in seinem Wohnbezirk. "Ich wohne am Wienerberg und da ist die Situation richtig schlimm". Dem "Herren aus Ungarn" könne er aber sonst nicht zustimmen. Ja, ab und an gebe es hier auf der Favoritenstraße eine Pöbelei. Aber gefährlich sei es nicht. "Ich habe keine Angst hier." (lhag, 9.3.2018)