Ein Idyll der Trostlosigkeit: der Blick vom Donauufer auf den Wiener Mexikoplatz, eine eher übel beleumundete Gegend im zweiten Bezirk.

Foto: : Robert Newald

Habent sua fata libelli – ja, nicht nur Bücher, sondern auch Dokumente haben ihre Schicksale! In diesem Fall der Text des Protestes Mexikos gegen den Anschluss vom März 1938.

Mein Dissertationsvater an der Uni Wien, Friedrich Engel-Jánosi, zurück aus dem amerikanischen Exil, hatte noch in den USA einen Aufsatz über "The Austrian Resistance against Nazi-Germany" publiziert. In Wien war das Thema damals völlig irrelevant. Aber darin fand ich eine kurze Referenz auf den mexikanischen Protest gegen den Anschluss. Mehr war darüber damals nicht zu erfahren.

Allein, das Thema blieb in meinem Kopf. Und als ich in den späten 1980ern aus Lateinamerika nach Wien zurückkehrte und mit März 1988 sich der 50. Jahrestag der mexikanischen Protestnote näherte, verfasste ich einen ersten eher feuilletonistischen Text zum Thema. Die Redaktion machte ihn unter dem Titel auf: "Nur Mexiko marschierte in Genf".

Das war insofern falsch, als weitere Mitglieder im Völkerbund sehr wohl ihre Stimme gegen die Deutschen erhoben, darunter wortgewaltig die Sowjetunion. Aber nur Mexiko formulierte den Protest schriftlich in Form eines zweiseitigen Briefes, gerichtet an den Generalsekretär des Völkerbundes, Joseph A. Avenol. Was die Frage dringlich macht: Wer verfasste diesen Brief? Und wo befindet sich das Original?

Als Frucht meiner Lateinamerika-Aufenthalte kannte ich auch die eminente Figur der mexikanischen Diplomatie, den Señor Doctor Isidro Fabela. Dessen epochale Leistung war es gewesen, die mexikanische Revolution mittels völkerrechtlicher Doktrinen gegen Intervention von außen abzuschotten. Inzwischen mexikanischer Delegierter beim Völkerbund, übertrug Fabela die These vom Widerstand gegen Eingriffe von außen auf den österreichischen Fall, also den militärischen Einmarsch der Deutschen.

Sein Protestbrief datiert vom 19. März 1938. Nicht zufällig, denn am Tag zuvor, am 18. März 1938, hatte das revolutionäre Mexiko unter Präsident Lázaro Cárdenas die Nationalisierung des mexikanischen Erdöls verfügt – wogegen die USA, England und Holland drohend vorgehen wollten. Isidro Fabelas schriftliche Protestnote sollte der gesamten Welt den entschlossenen Widerstand gegen alle Formen von Intervention verdeutlichen. Womit er eigentlich die "UN-Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten" von 1974 (mit dem Recht von Dritte-Welt-Staaten auf Verstaatlichung von Bodenschätzen) vorwegnahm.

Politisches Kalkül

Mexiko handelte also vor allem aus politischem Kalkül, um die eigene Erdölverstaatlichung abzusichern. Außerdem herrschte keine besondere Liebe zu Österreich vor, weil dessen katholischer Ständestaat in Missionszeitschriften heftig die antiklerikale Haltung der Revolution gegen die frommen Indianerbauern geißelte.

Isidro Fabela, obschon mit einer Deutschen verheiratet, mochte Österreich persönlich überhaupt nicht. Deswegen schob er, gegen einen telegrafischen Einwand Präsident Cárdenas, seine Kritik an der Schuschnigg-Regierung mit diesem listigen Nebensatz ein: "... andererseits vertreten die Behörden, welche die vollziehende Gewalt preisgaben, keineswegs das österreichische Volk, das sicherlich den Tod seines Vaterlandes als eine düstere Tragödie ansieht ..."

Isidro Fabela hätte gern die Unterstützung der lateinamerikanischen Kollegen gehabt. Doch da Österreich sich derart begeistert den Einmarschierenden ergab, blieb es lediglich bei belanglosen Wortmeldungen. In Mexiko-Stadt indessen protestierte der deutsche Gesandte Rüdt von Collenberg wutentbrannt gegen dieses "tragisch-komische" Schreiben, erreichte jedoch nicht dessen Zurücknahme. Somit sollte Mexiko den "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich nie anerkennen – was für österreichische Flüchtlinge in Mexiko, als Asylanten willkommen, Vorteile brachte.

Nach 1945 legte sich vorerst Staub des Vergessens auf diese heroische Anekdote. In Wien kam es immerhin zum "Mexiko-Platz". In unmittelbarer Nachbarschaft wurde am 27. November 1985 ein Gedenkstein zur Erinnerung an Mexikos Protestnote enthüllt, im Beisein des damaligen mexikanischen Botschafters Roberto de Rosenzweig-Diaz und des Wiener Bürgermeisters Helmut Zilk. Ein ähnlicher Gedenkstein steht im Gebüsch an der Prachtstraße Reforma in Mexiko-Stadt. Als Anmerkung noch: Nur ein einziger Lateinamerikaner, mein argentinischer Kollege Marcos Kaplan, hat zum Thema eine diplomatiehistorische Arbeit publiziert.

Wo ist das Original?

So weit, so gut. Aber wo befindet sich das Original des zweiseitigen Schreibens? Eigentlich müsste es im Archiv des Völkerbundes liegen. Aber auch dort gibt es, laut brieflicher Mitteilung, nur Kopien von Kopien. Hat Monsieur Avenol den Text in seiner präsidialen Mappe vergessen? Vielleicht sollte man intensiv danach suchen, denn im kommenden Haus der Geschichte Österreich wäre dem Dokument ein Ehrenplatz sicher. Ich persönlich würde ja dafür plädieren, als Dank für diese Protestnote dem Land Mexiko unseren aztekischen Federschmuck aus dem Weltmuseum Wien zu überlassen. (Gerhard Drekonja-Kornat, 9.3.2018)