Im Science-Fiction-Kostüm gegen die Auflösung der Solidarität.

Foto: Michael Loizenbauer

Wien – Durchschnittlichkeit im Aussehen ist schon einmal eine gute Voraussetzung. Kommt aber die Steigerung von allgemein als attraktiv geltenden Details dazu, wird das Ergebnis als "schön" angesehen. In Bezug auf die menschliche Erscheinung kennt die populäre Leier davon, was als "Schönheit" gelten soll, kein Peinlichkeitslimit.

Der kulturelle Druck in Richtung Passform kommt aus den fatalen Bedeutungsschwankungen des Ausdrucks "Survival of the Fittest", nach einer Formulierung des englischen Biologen und Soziologen Herbert Spencer aus dem 19. Jahrhundert: Wir glauben, mit "Fitness" einen optimalen Zustand zu bezeichnen, dabei heißt das Vokabel eigentlich nur "Angepasstsein".

Nachhall des alten Biologismus

So etwa erweist sich die Floskel "fit werden für die Zukunft" als Forderung nach proaktiver Anpassung daran, was einem oder einer übergestülpt werden soll. Michael Turinskys neue Choreografie Reverberations, zu sehen heute, Samstag, im Tanzquartier Wien, zielt unter anderem darauf, was der Nachhall (dt. für "reverberation") des alten Biologismus für jene bedeutet, die außerhalb der gemeinen Durchschnittsversessenheit tanzen – weil sie müssen oder weil sie im Normierungszirkus nicht mitturnen wollen.

Anfangs legen sich zwei Tänzer, Andreas Guth und Mzamo Nondlwana, sowie die Tänzerin Elizabeth Ward zwischen zwei leuchtende, auf den Boden geklebte Klammern. Lange braucht es, bis die drei sich zu bewegen beginnen, und noch länger, bis der Musiker Hyko Dubz den Sound aufdreht. Das Publikum hat Zeit, sich darauf einzustellen, dass die Individuen in dem Trio bedrängte soziale Gruppen symbolisieren: Nondlwana als Afroösterreicher, Ward als Frau und Guth mit einer Körperbehinderung.

Fest des Zusammenseins

Aber schließlich tanzen sie, in Science-Fiction-haft silbrige Kostüme gekleidet, ein Fest ihres Zusammenseins, das als Statement gegen die Auflösung der Solidarität in unserer Gesellschaft gemeint ist.

Guth ist der Ausreißer im normalerweise fitnesstrunkenen Tanz. Wie Turinsky, der stets, wenn er – bei Tanz*Hotel, in eigenen Stücken oder auch bei Doris Uhlich – selbst auftritt, wie eine Allegorie des Unangepassten wirkt. Für die Ästhetik der Fitness, die alle als irgendwie krank oder "behindert" markiert, die ihr zu dick, zu krumm (oder als Raucher) in die Quere kommen, wirkt das wie pure Anarchie.

Bisher war jede Arbeit, die Turinsky gewagt hat, ein Experiment. Der Verlauf dieser Versuche zeigt, dass sich der Künstler auf dem schwierigen Performanceterrain von Mal zu Mal sicherer bewegt. In Deutschland zählt Raimund Hoghe, dessen Werk das bisher eindrucksvollste Veto gegen unseren Durchschnittswahn ist, heute zu den wichtigsten Choreografen. Turinsky wäre ein ähnlicher Erfolg zu wünschen. (Helmut Ploebst, 10.3.2018)