Nimmt in Berlin einen neuen Anlauf: Sergei Karjakin.

Foto: APA/AFP/ANP/SUYK

Berlin – Für die kommenden drei Wochen (10. bis 28.3.) wird Berlin zur Welthauptstadt des Schachs. Genauer gesagt: Das Kühlhaus in Berlin Kreuzberg, ein altes Industriegebäude aus Backstein, wie es berlinerischer kaum sein könnte, bildet die Kulisse für jenes achtköpfige, vierzehnründige Kandidatenturnier, das Magnus Carlsens nächsten Herausforderer hervorbringen wird.

Der glückliche Gewinner soll dann im November dieses Jahres in London mit dem Weltmeister in zwölf klassischen Partien die Klingen kreuzen. Er wird versuchen, es noch besser zu machen als Sergei Karjakin: Der Russe gestaltete den Wettkampf mit Carlsen 2016 in New York City zwar ausgeglichen, lag zwischenzeitlich gar in Führung, musste sich letztlich aber im Schnellschach-Tiebreak geschlagen geben.

Es muss jedoch nicht Karjakins letzte Chance gewesen sein. Der unterlegene Finalist des vergangenen WM-Zyklus ist nämlich automatisch – so wollen es die Regularien des Weltschachbundes FIDE – für das Kandidatenturnier des nächsten Zyklus gesetzt. Und obwohl Karjakin in den vergangenen Monaten nicht in Topform agierte, spricht in Berlin eines für ihn: Als einziger der Teilnehmer hat er genau diese Art von Turnier 2016 bereits einmal gewonnen.

Viele Favoriten

Wird die Frage nach dem Favoriten gestellt, fallen unter Experten jedoch andere Namen. Da ist einmal der Armenier Lewon Aronjan, seit Jahr und Tag Teil der absoluten Weltspitze und mit dem sympathischen Makel behaftet, dass ihm in entscheidenden Momenten bisher mitunter die Nerven versagten. Aronjan gilt als leicht schlampiges Genie, ihn würden sich viele als Carlsens nächsten Herausforderer wünschen. Und der Armenier hat in Berlin gewissermaßen Heimvorteil: Jahrelang lebte er in der deutschen Hauptstadt, stand in der Bundesliga auch in den Diensten des lokalen Vereins "Schachfreunde Berlin".

Dann gibt es da natürlich Wladimir Kramnik, Ex-Weltmeister und bei diesem Turnier genau das, was Sportreporter so gerne einen "sentimentalen Favoriten" nennen. 18 Jahre ist es bereits her, dass Kramnik den damals als unbezwingbar geltenden Garri Kasparow entthronte und sich zum 14. Weltmeister der Schachgeschichte kürte. Was wäre es für eine Geschichte, wenn es dem Russen gelingen sollte, mit einem Sieg in Berlin ein weiteres Mal ins WM-Finale gegen den fast zwanzig Jahre jüngeren Carlsen vorzustoßen.

Bei der Eröffnungspressekonferenz im Kühlhaus scherzte ein locker wirkender Kramnik denn auch, er habe mehr für die Popularität Berlins in Schachkreisen getan als jeder andere Spieler: Da er Kasparow anno 2000 vorwiegend durch Einsatz der "Berliner Mauer" geheißenen Verteidigung bezwungen habe, sei es doch nur folgerichtig, wenn ihm das jetzt mit einem Sieg beim Berliner Kandidatenturnier vergolten werde. Nicht nur solche Späße zeigen: Auch Kramnik fühlt sich in Berlin zuhause, auch er hat ein Jahr lang in Deutschland gelebt und in der deutschen Bundesliga gespielt, das Weltklasseturnier in Dortmund gewann er öfter als jeder andere.

Kaum Außenseiter

Und die anderen fünf – lauter Statisten? Alles andere als das. In der jüngeren Geschichte der Schachweltmeisterschaften dürfte es kein Kandidatenturnier mit einem solchen Mangel an Außenseitern gegeben haben. Shakhriyar Mamedyarov hätte vor zwei Jahren vielleicht noch als solcher gelten dürfen. Aber der furchtlose Angriffsspieler aus Aserbaidschan, der Österreichs Markus Ragger 2015 einen packenden Wettkampf im Wiener Rathaus lieferte, ist aktuell zur Nummer zwei der Weltrangliste aufgestiegen – obwohl oder gerade weil er in seinen wilden Partien mehr riskiert als jeder andere Topgroßmeister.

Die zwei Teilnehmer aus den USA, Wesley So und Fabiano Caruana, beide noch jünger als Weltmeister Carlsen, stehen eigentlich erst am Anfang ihrer Karriere – dennoch würde es kaum einen Beobachter überraschen, wenn einer der beiden das Kandidatenturnier für sich entscheidet und sich damit die Chance erkämpft, zum ersten US-amerikanischen Weltmeister seit dem legendären Bobby Fischer zu werden.

Am ehesten könnte man bei der Suche nach einem logischen Sieger auf den Russen Alexander Grischtschuk sowie den Chinesen Ding Liren vergessen. Aber auch das wäre ein Fehler: Beide können bei diesem Turnier weitgehend ohne Erwartungsdruck agieren. Während Ding als überhaupt erster chinesischer Teilnehmer bei einem Kandidatenturnier sein Soll schon vor Beginn erreicht hat, ist Grischtschuk ein trickreicher Routinier, der selbst unter den Bedingungen horrendester Zeitnot (in die er sich regelmäßig driften lässt) kaum zu erschlagen ist.

Publikumsmagnet Schach

Das Fazit vorab: Es wird verdammt spannend. Und die Hauptstadt eines Landes, in dem es mit 90.000 Schachspielern in 2.700 Vereinen mehr Aktive geben dürfte, als irgendwo anders auf der Welt, ist der ideale Ort, um dieses Fest des Schachspiels über die Bühne gehen zu lassen. Mehr als dreitausend Tickets soll der Veranstalter AGON im Vorfeld bereits losgeworden sein, die dreiwöchige Veranstaltung ist schon vor Beginn beinahe ausverkauft.

Wobei die Internetübertragung diesbezüglich noch ganz andere Dimensionen kennt: Rund zehn Millionen Zuschauer vermeldete AGON 2016 beim WM-Finale in New York. In Berlin will man 20 bis 30 Millionen Menschen weltweit per Livestream erreichen. Oder wie es ein enthusiasmierter Berliner Fotograf im Kühlhaus dem Autor dieser Zeilen gegenüber formulierte: "Die Bilder von diesen Schachgroßmeistern verkaufen sich wie die Hölle! Schach ist echt der größte Nischensport der Welt." (Anatol Vitouch, 9.3. 2018)