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Ex-Weltmeister Wladimir Kramnik zeigt zum Auftakt einige Finessen.

Foto: ap/leanza

Berlin – Der erste, der sich in die Siegerliste einträgt, ist Fabiano Caruana. Gegen seinen US-amerikanischen Landsmann Wesley So führt er die weißen Steine und stellt seine Dame in einer Katalanischen Eröffnung auf das Feld b3, anstatt sie – wie für diese Struktur üblich – auf c2 zwischenzuparken. Sein Gegner wirkt davon nicht besonders überrascht, entwickelt sich logisch und stößt seine Damenflügelbauern unter Tempogewinn weit vor. Spätestens als Caruanas Dame doch nach c2 weichen muss und Wesley So mit e5 im Zentrum durchbricht, scheint der Schwarzspieler die Eröffnungsprobleme gelöst zu haben.

Aber ab diesem Moment läuft für So nichts mehr zusammen. Während seine Initiative am Damenflügel ins Stocken kommt, reißt Caruana den schwarzen Königsflügel auf und lässt seine Leichtfiguren in die entstandenen Freiräume vordringen. Und dann geht alles überraschend schnell: Im 33. Zug setzt Caruana einen Turm auf die siebte Reihe, der Sos König im Verbund mit drei anderen Figuren den Garaus machen soll. Das will sich So nicht mehr zeigen lassen und streckt stattdessen die Waffen.

Aronjan remisiert, Kramnik provoziert

Als Wesley So aufgibt, ist die Partie zwischen Lewon Aronjan und Ding Liren bereits eine Weile zu Ende. In der Mikenas-Variante der Englischen Partie hatte Aronjan seinen Kontrahenten früh unter Druck gesetzt, die Dame des Chinesen drohte am Brettrand einem konzertierten Angriff weißer Figuren zum Opfer zu fallen. Der von Aronjans Variantenwahl überraschte Ding improvisiert allerdings virtuos. Zwar könnte Aronjan einmal die Dame, dann einen auf d4 geopferten schwarzen Läufer kassieren, die Folge wäre jedoch heftige schwarze Initiative gegen den auf f1 gestrandeten weißen König. Das ist dem Armenier für Runde eins verständlicherweise zu riskant, und so schwenkt er auf eine Zugwiederholungssequenz ein, die die lebhafte Auseinandersetzung nach nur 22 gespielten Zügen friedlich beendet.

Das innerrussische Duell zwischen Wladimir Kramnik und Alexander Grischtschuk wiederum beginnt gemächlich, um dann heftig Fahrt aufzunehmen, als Grischtschuk mit Schwarz spielend nach nur zwanzig Zügen in massive Zeitnot driftet. Kramnik, der die Partie mit nur scheinbar harmlosen, subtilen positionellen Manövern begonnen hat, wittert seine Chance und provoziert seinen Landsmann mit einer Springer-Sortie nach g5. Grischtschuk schluckt den Köder, schwenkt seinen Turm zwecks Stelldichein mit dem weißen König aggressiv von c5 nach g5 und stürzt sich so mit nur wenigen Minuten auf der Uhr in halsbrecherische taktische Verwicklungen.

Zwar findet auch Kramnik in der Folge nicht immer den präzisesten Weg. Der Ex-Weltmeister versteht es allerdings, seine Stellung so zu konsolidieren, dass er zu keinem Zeitpunkt in Verlustgefahr gerät und dabei zugleich einen leichten strukturellen Vorteil zu bewahren. Gerade als Grischtschuk die vermeintlich rettende Zeitkontrolle im 40. Zug erreicht und das Schlimmste hinter sich zu haben scheint, ist Kramnik in seinem Element. Ein anfangs nur leicht besseres Endspiel entwickelt sich in seinen Händen in wenigen Zügen zu einer für Schwarz gänzlich verlorenen Sache. Als der weiße a-Freibauer der Beförderung in den Rang einer Dame immer näherkommt, hat ein entnervter Grischtschuk genug gesehen und gibt im 48. Zug auf.

Geräusche, Toiletten und ein Schwarzsieg

In der Pressekonferenz nach der Partie will Grischtschuk seine heftige Kritik an den suboptimalen Spielbedingungen dann nicht als Ausrede verstanden wissen: verloren habe er aus rein schachlichen Gründen. Dennoch pocht er wie die meisten anderen Spieler darauf, dass für die nächsten Runden etwas gegen den hohen Geräuschpegel unternommen werden muss. Für das zahlreich erschienene, zahlende Berliner Publikum ist es toll, die Partien live sowohl vom Erdgeschoss als auch von einer Galerie im ersten Stock aus verfolgen zu können. Der Hall im Kühlhaus führt allerdings dazu, dass die Konzentration der Spieler immer wieder akustisch gestört wird. Veranstalter AGON muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dieses naheliegende Problem im Vorfeld ignoriert zu haben, zumal es sich nicht um das einzige organisatorische Versagen dieser ersten Runde handelt: "Die Toilette war in keinem tollen Zustand", sagt ein nach seinem Auftaktsieg locker wirkender Wladimir Kramnik dazu.

Die größte Überraschung der ersten Runde ist erst nach mehr als sechs Stunden Spielzeit spruchreif. In einem Damenendspiel setzt sich Shakhriyar Mamedyarow mit den schwarzen Steinen spielend gegen Vizeweltmeister Sergei Karjakin durch. Der Aserbaidschaner hatte seinen russischen Gegner in einer Spanischen Partie schon mit dem Läuferfianchetto 3…g6 überrascht. Ausgangs der Eröffnung entsteht bald eine Position, in der Karjakin an seiner beschädigten Bauernstruktur und daraus folgender mangelnder Königssicherheit laboriert. Trotzdem scheint der für seine Zähigkeit berühmte Russe im Endspiel lange über gute Remis-Chancen gegen Mamedyarovs entfernten b-Freibauern zu verfügen.

Mit einem technisch sauber herausgespielten Sieg, dem auch die vor Ort befindliche Schachlegende Artur Jussupow höchsten Respekt zollt, beweist der sonst für seine Angriffskünste gerühmte Aseri, dass er in den vergangenen Jahren zu einem kompletten Spieler gereift ist. Was Magnus Carlsen beim WM-Finale in New York City anno 2016 kaum je gelungen ist, schafft Mamedyarov mit leichter Hand: Eine gewonnene Stellung gegen Sergei Karjakin mit viel Geduld nach 71 Zügen auch tatsächlich zu gewinnen.

Carlsen vs. Giri

Apropos Carlsen: Der Weltmeister lieferte sich unmittelbar vor Turnierbeginn eine schriftliche Auseinandersetzung mit Kramnik-Sekundant Anish Giri. Nachdem Giri auf Twitter angedeutet hatte, Carlsen fürchte sich vor einem Sieg Wladimir Kramniks beim Kandidatenturnier in Berlin, schoss der Norweger ungewöhnlich scharf zurück: "Gewinn doch lieber zum ersten Mal in deinem Leben ein Turnier, dann werden dich die Leute vielleicht ernst nehmen", twitterte Carlsen und bekam für diesen Kommentar postwendend Unterstützung von US-Großmeister Hikaru Nakamura.

Ein Match abseits der Matches.

Die Spannung des Berliner Kandidatenturniers scheint also in die ganze Schachwelt auszustrahlen. Solange es auch auf dem Brett weiterhin so zur Sache geht, soll es den Schachfans recht sein. Und wenn AGON jetzt noch die Toilette repariert, kann nach diesem fulminanten Auftakt gar nicht mehr so viel schief gehen. (Anatol Vitouch, 11.3.2018)