Elisabeth Hammer (links) und Daniela Unterholzner (rechts) befürchten einen Zuwachs an Wohnungslosen, sollte der Bezug der Mindestsicherung verschärft werden.

Foto: Johanna Rauch

STANDARD: Wer ist heutzutage noch von Wohnungslosigkeit betroffen?

Unterholzner: Wohnungslosigkeit hat viele Gesichter, das klassische Bild eines Obdachlosen gibt es nicht mehr. Und Wohnungslose werden jünger. Ein Drittel von ihnen ist unter 29 Jahre alt. Viele Anfang 20-Jährige können sich die Anfangskosten einer Wohnung nicht leisten. Es ist ein Problem, das in der Mittelschicht angekommen ist.

Hammer: In den vergangenen Jahren sind die Zahlen bei der Obdach- und Wohnungslosigkeit um ein Drittel gestiegen. 2016 waren 15.000 Menschen als wohnungslos registriert, die Dunkelziffer liegt um einiges höher. Es ist ein Seismograf für Ungleichheit insgesamt. Steigende Mieten machen das Problem größer. Die Verwundbarkeit der Mittelschicht hat zugenommen. Obdach- und Wohnungslosigkeit ist die Spitze des Eisbergs. Eine große Gruppe sieht man gar nicht: die Frauen.

STANDARD: Wie unterscheidet sich weibliche Wohnungslosigkeit von männlicher?

Unterholzner: Frauen nutzen gewisse Räume wie Notschlafstellen weniger, weil sie sich dort unwohl fühlen, und das oft zu Recht. Frauen halten viel länger durch, bleiben länger in Gewaltbeziehungen, bis sie ihre Tasche packen und mit ihren Kindern rennen. Dann versuchen sie im sozialen Netzwerk unterzukommen. Unser Angebot "Housing First", bei dem Menschen ihre eigenen vier Wände bekommen, wird von Frauen gut angenommen. Das Bedürfnis nach Privatsphäre ist stark ausgeprägt.

Hammer: Wir hinken gesamtgesellschaftlich bei Angeboten für Frauen hintennach. Gerade Frauen, die aus Gewaltbeziehungen kommen, brauchen Sozialarbeit, die, wenn auch Beschämung und Stigmatisierung passiert sind, Menschen Würde und Anerkennung zurückgibt. Es braucht eine Beziehung und Beratung auf Augenhöhe, um das Vertrauen in den Sozialstaat wiederherzustellen – das gilt für alle Menschen.

STANDARD: Sie haben die steigenden Mieten im Privatsektor als Grund für Obdachlosigkeit genannt. Wie kann man dem entgegenwirken?

Hammer: Aktuell haben wir einen Bedarf an 1.000 Wohnungen für Menschen, die derzeit wohnungslos sind. Das ist eine Aufgabe, die nicht der kommunale Wohnbau alleine stemmen kann. Es sind alle Segmente gefordert.

Unterholzner: Wien hat ein gutes System beim kommunalen Wohnbau, aber 2015 sind die Zugangsbeschränkungen verändert worden. Das merken wir massiv: Leute, die bereits stabil wohnen könnten, bekommen dadurch keinen Platz. Es bedeutet viel für die Menschen, wieder einen eigenen Schlüssel und ein eigenes Postfach zu haben. Bei "Housing First" bieten wir dank Kooperationen mit Partnern der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft leistbares Wohnen mit einem Quadratmeterpreis zwischen 7,50 und 8,50 Euro an.

STANDARD: 2015 wurde der Wien-Bonus eingeführt, dadurch werden Langzeitwiener bei der Vergabe von Gemeindebauwohnungen vorgezogen. Der designierte Bürgermeister Michael Ludwig hat bereits erklärt, sich auch einen Bonus für andere Sozialleistung vorstellen zu können ...

Hammer: Die Einkommenssituation muss so sein, dass Wohnen leistbar ist. Wenn die Mindestsicherung 863 Euro für eine Person ausmacht, und davon sind 322 fürs Wohnen vorgesehen, wissen wir, dass Wohnen nicht leistbar ist. Hier erwarte ich Antworten aus der Politik. Es kann nicht Ziel der Stadt Wien sein, dass Menschen im Hilfesystem gehalten werden, die schon auf eigenen Beinen stehen könnten.

STANDARD: Niederösterreich und Oberösterreich haben den Bezug der Mindestsicherung bereits verschärft. Auch in Wien kann man sich eine Wartefrist vorstellen.

Hammer: Wir begrüßen es, dass Wien keine Verschärfung durchgesetzt hat. Es wäre zu wünschen, dass Wien den Weg weiter beibehält. Bei Wartefristen ist damit zu rechnen, dass auch die Zahl an wohnungs- und obdachlosen Menschen steigt. Gelder, die auf einer Seite eingespart werden, zeigen sich im Sozial- und Hilfesystem auf der anderen Seite. Es ist nicht im Interesse einer sozialen Stadt und sicher auch nicht eines Bürgermeisters, der Vorsitzender der Wiener Sozialdemokratie ist, dass Personen länger als notwendig im Hilfesystem aufschlagen, wo wir Armut nur verwalten können. Ein existenzsicherndes Einkommen ist der wesentliche Faktor, um den Zugang zum Wohnungsmarkt wieder freizumachen. Von jeder Kürzung der Mindestsicherung sind immer auch Kinder betroffen, damit werden auch die Chancen von künftigen Generationen geschmälert.

Unterholzner: Für die Wohnungslosenhilfe bedeutet es mehr Arbeit, und es bedeutet, dass Wohnungslosigkeit sichtbarer wird.

STANDARD: 100.000 Personen sind Schätzungen zufolge nicht krankenversichert, 35.000 haben im vergangenen Jahr medizinische Versorgung aus finanziellen Gründen nicht angenommen. Was kann man hier tun?

Unterholzner: Man muss das gesamte System im Blick haben. Gerade in der Zahnarztpraxis ist das wichtig. Schlechte Zähne schließen von vielem aus, etwa von der gesellschaftlichen Teilhabe oder dem Arbeitsmarkt. Sie sind stigmatisierend. Nachhaltige Gesundheitsversorgung ist wichtig, damit Menschen weiterkommen, sonst können sie vieles nicht leisten, was nötig ist.

Hammer: Es geht bei uns darum, dass wir nicht nur einmal eine Wunde behandeln, sondern dass die Personen wiederkommen und nachhaltig andocken.

Unterholzner: Manche Schmerzen kann man bis zu einem gewissen Grad wegdenken. Aber bei Zahnschmerzen hört es auf. Zu uns kommen Leute, wenn sie nicht mehr wissen, wohin.

STANDARD: Wer kommt ins Gesundheitszentrum?

Hammer: Es gibt bei uns Personen, die andocken, ohne dass sie sich in den Behandlungsraum begeben. Indem sie mit der Ordinationshilfe oder den Sozialarbeitern Kontakt haben und erst beim zweiten oder dritten Besuch zum Arzt hineingehen. Die Sozialarbeiter sind unsere Türöffner für das Gesundheitssystem. (Oona Kroisleitner, 13.3.2018)