"DEN Obdachlosen" gibt es nicht, sagen die Geschäftsführerinnen des Neunerhauses. Steigende Mieten im Privatsektor würden das Problem vergrößern, das mittlerweile in der Mittelschicht angekommen ist.


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Wien – Kurz vor zehn: In der Margaretenstraße im fünften Wiener Gemeindebezirk steht eine Traube von Menschen, die darauf wartet, dass das Neunerhaus-Café aufsperrt. Im Oktober wurde hier das neue Gesundheitszentrum der Sozialorganisation mit anliegendem Kaffeehaus eröffnet. "Das funktioniert gut. Bei manchen kommen wir in der Praxis nicht weiter. Im Café sprechen sie mit Sozialarbeitern oft offener über Probleme", sagt Daniela Unterholzner, Neunerhaus-Geschäftsführerin. Auch der Arzt kommt, wenn nötig, ins Lokal und stellt dort die Diagnosen.

Viele Gesichter

Die Männer und Frauen, die im anliegenden Gesundheitszentrum auf die Behandlung warten, sind jung, alt, haben Migrationshintergrund oder nicht. "Wohnungslosigkeit hat viele Gesichter, das klassische Bild des Obdachlosen gibt es nicht mehr", sagt Unterholzner. In den vergangenen zehn Jahren ist in Österreich die Anzahl wohnungsloser Menschen laut Statistik Austria um ein Drittel gestiegen. Im Jahr 2016 waren rund 15.000 Personen als wohnungslos registriert. In Wien leben rund 70 Prozent der Betroffenen. "Man kann davon ausgehen, dass die Dunkelziffer um einiges höher ist", sagt Elisabeth Hammer, ebenfalls Geschäftsführerin.

Steigende Mieten im privaten Sektor würden das Problem derzeit erhöhen. "Die Verwundbarkeit der Mittelschicht hat zugenommen", sagt Hammer. Aktuell gebe es in der Wiener Wohnungslosenhilfe einen Bedarf an rund 1000 zusätzlichen Wohnungen. "Obdach- und Wohnungslosigkeit ist nur die Spitze des Eisbergs", sagt Hammer. So sei gerade die Situation von Frauen oft unsichtbar. Sie bleiben länger in Gewaltbeziehungen, bevor sie sich in die Wohnungslosigkeit begeben. "Dann versuchen sie, im sozialen Netzwerk unterzukommen. Das ist aber eine zeitlich beschränkte Lösung", sagt Unterholzner. Notschlafstellen seien für Frauen noch immer Angsträume. Sie fühlen sich dort oft unwohl.

Hoher Wohnungsbedarf

Den Bedarf an leistbaren Wohnungen könne aber nicht nur der kommunale Wohnbau stillen, sagt die neue Doppelspitze, die seit Ende November die Geschäfte führt. Der 2015 eingeführte Wien-Bonus habe die Situation für die Sozialarbeit allerdings erschwert. Seither werden Personen pro fünf Jahre, die sie in Wien leben, auf der Warteliste für geförderte Wohnungen um drei Monate vorgereiht. "Das merken wir massiv: Leute, die bereits stabil wohnen könnten, bekommen dadurch keinen Platz", sagt Unterholzner.

Dass der designierte Wiener Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ), der 2015 als Wohnbaustadtrat den Bonus eingeführt hat, sich selbiges für andere Sozialleistungen vorstellen kann, stellt das Neunerhaus vor offene Fragen. "Wenn die Mindestsicherung 863 Euro für eine Person ausmacht und davon 322 fürs Wohnen vorgesehen sind, wissen wir, dass Wohnen nicht leistbar ist", sagt Hammer: "Es kann nicht Ziel der Stadt Wien sein, dass Menschen im Hilfesystem gehalten werden, die schon auf eigenen Beinen stehen könnten."

Wartefrist als Verschärfung

Bei Wartefristen für die Mindestsicherung sei damit zu rechnen, dass "die Zahl an wohnungs- und obdachlosen Menschen" steigt. Geld, das dadurch eingespart wird, würde sich "im Sozial- und Hilfesystem niederschlagen".

So seien Schätzungen zufolge aktuell rund 100.000 Menschen in Österreich nicht krankenversichert. Armutsgefährdete Personen würden oft aus finanziellen Gründen auf medizinische Versorgung verzichten – als Erstes wird der oft teure Besuch beim Zahnarzt eingespart. Ein Schwerpunkt in Wien-Margareten liegt daher auf der zahnmedizinischen Behandlung. "Schlechte Zähne schließen aus – von der gesellschaftlichen Teilhabe und auch vom Arbeitsmarkt", sagt Unterholzner.

Viele, die hier versorgt werden, waren schon lange nicht mehr beim Arzt. Im lichtdurchfluteten Warteraum spielt ein älterer Mann mit seinem Hund. Tiere sind nicht nur im angrenzenden veterinärmedizinischen Bereich erlaubt.

Die Vierbeiner geben den Menschen, die oft Angst vor dem Arztkontakt haben, Sicherheit. Auch ein freundliches, helles Erscheinungsbild war beim Umbau des Gesundheitszentrums ein Anliegen. "Es bedeutet etwas, wenn man zu uns kommt", sagt Unterholzner: "Zu uns kommen diejenigen Leute, die nicht mehr wissen, wohin sie sonst sollen." Und das sind nicht wenige: Im Jahr 2017 bilanzierte das Neunerhaus-Gesundheitszentrum rund 4200 Patienten, die zu 29.200 Behandlungen kamen. (Oona Kroisleitner, 13.3.2018)