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Und die Menschenmenge auf dem Heldenplatz jubelt: Adolf Hitler während seiner Rede auf dem Altan der Hofburg in Wien am 15. 3. 1938.

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Ist Gedenken nicht selten Pflichtübung in politischer Korrektheit? Dient Gedenken als Ablassfunktion? Zur Bekräftigung des kollektiven Konsenses, dass wir als Gedenkende für uns die Hand ins Feuer legen können?

Ich habe nachgedacht, welche Form des Gedenkens mich diese Zweifel überwinden ließe, und ich bin zur Überlegung gekommen: Wie wäre es, Gedenken immer in einen Zusammenhang mit dem eigenen Gewissen zu stellen? In der Stunde des Gedenkens und im Bewusstsein darüber, dass es wohl nahezu unmöglich ist, sich in die Vergangenheit und deren gänzlich andere Ausgangslagen zu versetzen, trotzdem den Bezug zur eigenen Gegenwart, zum eigenen Leben zu suchen, indem man sich zwei Fragen stellt. Eine schwer zu beantwortende und eine leicht zu beantwortende.

Die schwierige Frage lautet: Wie hätte ich damals gehandelt? Schwer zu sagen. Ganz leicht hingegen antworten kann man auf die zweite Frage: Und wie handle ich heute?

Wie wäre es also, einen Gedenkanlass zu nutzen zur persönlichen Gewissenserforschung, um dann einem möglicherweise daraus erwachsenden eigenen Appell zur Wandlung zu folgen?

Ist die Beantwortung der Frage "Wie hätte ich damals gehandelt?" zwar schwer, beruht sie doch auf einer nachträglich kaum nachzuweisenden Hypothese, ist sie nicht die wesentliche Frage. Allerdings bildet schon die Auseinandersetzung mit dieser Frage die Ausgangslage für die zweite Frage, die leicht und jederzeit und eindeutig zu beantworten und entscheidender ist: "Und wie handle ich heute?"

Charakterstärke

Wenn der 1938 ins amerikanische Exil entkommene österreichische Literat Alfred Polgar in seinem 1948 noch im Emigrantenverlag Querido erschienen Essay "Der Emigrant und die Heimat" schreibt: "Nicht verschwiegen darf auch werden, dass es viele im Nazi-Reich gab, die zu den schmutzigen und blutigen Ereignissen dort zwar nicht laut 'Nein' sagten, aber immerhin die keineswegs ungefährliche Charakterstärke aufbrachten, nicht laut ,Ja' zu sagen ...", dann frage ich mich: Hätte denn ich damals die Charakterstärke aufgebracht, nicht laut Ja zu sagen oder gar laut Nein? Schwer zu beantworten. Deshalb viel wesentlicher: Wofür reicht meine Charakterstärke heute, ohne jede Gefährdung?

Ich habe die Idee zu diesen Fragen schon vorgetragen, etwa in meiner Gedenkrede am 26. Oktober 2016, also am österreichischen Nationalfeiertag bei der alljährlichen Gedenkfeier beim Mahnmal der Opfer der NS-Diktatur und für ein freies Österreich am Friedhof Annabichl in Klagenfurt im Beisein des Kärntner Landeshauptmannes und vieler Honoratioren. Und viele kamen nachher auf mich zu und gratulierten mir zu der Aufforderung, sich einmal die schwierige Frage zu stellen: Wie hätte ich damals gehandelt?

Wie erstaunt war ich aber, dass kein Einziger, niemand, meine zweite Frage erwähnte, die doch wohl wichtigere und auch ganz leicht zu beantwortende: Und wie handle ich heute? Wurde diese Frage überhört? Oder wurde selektiv gehört? Oder wollte man diese Frage überhören, weil die Antwort darauf nicht gegeben und schon gar nicht gehört werden wollte?

In diesem Sinn fahre ich also heute und hier fort und erinnere, dass ich von zwei Fragen und den Antworten darauf spreche!

Wie ist das also mit der Charakterstärke damals und heute? Ich hätte damals wohl geschwiegen, wenn man mich bedroht hätte, meine Familie, meine Kinder, wenn ich um meinen Beruf, mein Auskommen, mein Leben hätte bangen müssen? Aber wie laut ist meine Stimme heute, ohne diese Bedrohungen?

Und ich frage weiter: Was wäre ich damals gewesen als durchschnittlicher Bürger – ein Gleichgültiger oder ein Wacher? Ein Abschalter oder ein Mitdenker? Ein Wegschauer oder ein Hinschauer? Ein Schweiger oder ein Aussprecher, oder gar ein Rufer? Schwer zu beantworten. Deshalb viel wesentlicher: Wie laut ist mein Ruf heute? Wo dieser Ruf wieder eine nie geahnte Wichtigkeit hat.

Dummsteller oder Verstehenwollender

Hätte ich gewähren lassen damals, oder hätte ich eingegriffen? Hätte ich wissen wollen damals, oder besser nicht wissen wollen? Wäre ich ein Dummsteller gewesen, oder ein Verstehenwollender? Schwer zu beantworten. Deshalb viel wesentlicher: Was davon bin ich heute?

Hätte ich mich verführen lassen damals, hätte ich geglaubt, gehofft? Oder hätte ich der Verführung widerstanden? Hätte ich gar Widerstand geleistet? Schwer zu beantworten. Deshalb viel wesentlicher: Was von dem tue ich heute?

Wäre ich gar ein Gegner gewesen? Oder ein Mitläufer? Oder gar ein Täter? Hätte ich geholfen? Oder hätte ich verraten, um mein eigenes Auskommen zu retten? Schwer zu beantworten. Deshalb viel wesentlicher: Wie handle ich heute?

Was wäre ich gewesen damals: ein Feiger oder ein Mutiger? Aber viel wesentlicher: Was bin ich heute, wo es nicht den geringsten Mut erfordert? Hätte ich damals versucht, mir über mein Gewissen klar zu werden und danach zu handeln? Schwer zu beantworten. Deshalb viel wesentlicher: Bin ich mir heute über mein Gewissen im Klaren? Handle ich heute danach?

Wie hätte ich unter den damaligen Bedingungen diese Charakterprüfungen bestanden? Und wie bestehe ich unter den vergleichsweise leichten Bedingungen diese Charakterprüfungen heute? Wie sicher bin ich mir meiner ethischen Selbstverantwortung? Kann ich wirklich die Hand für mich ins Feuer legen?

Solche Gewissenserforschung kann wehtun, und vielleicht taucht manche dunkle Seite auf, der sich zu stellen nicht angenehm ist. Aber genau das halte ich für die Möglichkeit, Gedenkanlässe, Gedenken für jeden Einzelnen von uns nachhaltig wirken zu lassen.

Wunsch in die Zukunft gerichtet

Dazu inspiriert mich immer von Neuem ein Gedicht von Alfred Farau. Als Fred Hernfeld wurde er als Jude in Wien beim Novemberpogrom 1938 verhaftet und nach Buchenwald deportiert. Er konnte freikommen und in die USA flüchten. Dort war er bis zu seinem Tod ein führender Vertreter der Individualpsychologie und hat neben Fachbüchern auch etliche Dichtungen hinterlassen; darunter ein Gedicht, das er 1943 (!) geschrieben hat, also zwei Jahre vor dem Ende des Naziterrors. Er nannte es, als Wunsch in die Zukunft gerichtet, "Rede am Tage von Hitlers Sturz". Ich zitiere daraus nur ein paar Zeilen:

"Hitler ist tot! – Nun schwenket keine Fahnen, / marschiert nicht auf und läutet nicht die Glocken, / das ist ein Tag der Trauer und der Scham, / das ist kein Tag, um jauchzend zu frohlocken! // Wenn solch ein Mann in blutig langen Jahren / des Wahnsinns, wie die Welt ihn niemals sah, / von euch ertragen ward, von euch geduldet – / wenn das geschehen konnte und geschah, // dann schweigt, ihr Leute, und denkt nach darüber, / und fragt euch, wie es möglich war und kam / und dauern konnte

(...)

Von tausend Kanzeln gilt es, aufzuzeigen, / wie sich die Menschheit selbst ihr Los erschafft, / bis jedem klar wird, dass er mit verbunden, / mit Teil hat an der Erde Schöpferkraft!

(...)

Wenn das geschieht, und erst wenn wir so weit sind / ... /dann ist es Zeit zu jauchzen und frohlocken, / dann ist es Zeit für Fahnen und für Glocken – / doch heut ist nur ein bittrer Tag der Scham. / Besinnt euch, Leute, und geht still nach Hause. / Hitler ist tot – der wahre Kampf beginnt.

Dieser wahre Kampf beginnt zuerst in jedem Einzelnen von uns. Beim Hineinfragen in sich selbst, beim Gewissenerforschen. Beim Stellen der zwei Fragen an sich selbst und beim Beantworten der zwei Fragen: "Wie hätte ich damals gehandelt?", aber viel wesentlicher "Wie handle ich heute?".

Erinnerungskultur

Ich glaube, dass diese Gewissenserforschung in der so klein gewordenen globalisierten Welt über alle Grenzen hinweg in Köpfen und Herzen international verbindend und stärkend wirken kann. Zumindest aber kann diese Form der Erinnerungskultur zu einem jener Werte werden, auf die wir uns im Sinne des europäischen Einheitsgedankens berufen. Zu dieser ehrlichen Gewissenserforschung bei Gedenkanlässen ermuntere ich jeden Einzelnen, wenn Reden gehalten werden, wenn erzählt, ins Licht gerückt, gemahnt, beschworen und gewarnt wird.

Der deutsche Jude Siegmund Feniger, der bereits 1936 von Berlin über Wien nach Sri Lanka geflohen war und dort als Nyanaponika zu einem der großen buddhistischen Gelehrten wurde, gab uns als Essenz seiner Erkenntnisse einen Satz, der ans Ende gestellt sich als Bestätigung meiner Gedanken verstehen lässt. Der Satz lautet: "Nur durch innere Wandlung wandelt sich das Außen, auch wenn es noch so langsam nachfolgt." (Miguel Herz-Kestranek, 12.3.2018)