Der verklärte Blick auf die Vergangenheit hat nicht zuletzt entlastende Funktion, was die Bewertung der Gegenwart anlangt. Und so ist es verständlich, wenn Sarah Spiekermann in ihrem Blogeintrag vom 5. 3. festhält, dass "(k)ein Ort (...) in unserer Geistesgeschichte wichtiger für den Aktivismus (war) als die Universität", um hervorzuheben, wie stark die Gegenwart von dieser "Geistesgeschichte" abweicht.

Zwar ist diese historische Einschätzung eher schmeichelhaft als zutreffend. Aber das macht nichts. Dahinter steht ein durchaus zutreffender Befund: Wir (also die Unis) hatten schon bessere Zeiten; jedenfalls soweit man unsere Funktion, Reservoir und Katalysator eines kritischen gesellschaftspolitischen Diskurses zu sein, als Gradmesser nimmt. Wir waren mit Blick darauf schon einmal deutlich präsenter, als wir es heute sind. Aber wir waren mit Blick auf diesen Diskurs vielleicht auch schon deutlich inspirierter und damit deutlich inspirierender, als wir es heute sind; auch weil wir wohl unangepasster, unorthodoxer, vielleicht auch unliebsamer, jedenfalls aber unbequemer waren, als wir es heute sind.

Zwar war unangepasst, unorthodox, unliebsam und unbequem zu sein nie (wirklich) das programmatische Fundament, auf dem die Hohen Schulen Österreichs errichtet wurden. Doch war ihre Konstruktion statisch die längste Zeit darauf ausgelegt, regelmäßigen Erschütterungen standzuhalten, weil Widerstand und Widerspruch als strukturelle Voraussetzung akademischer Tätigkeit, wenn schon nicht gefordert, so zuweilen doch gefördert, stets aber billigend in Kauf genommen wurden. Das, hier hat Frau Spiekermann recht, war einmal, und es ist heute nicht mehr so.

Wenig Raum für "Muße und Präsenz"

Wann genau "einmal" war und wo genau die Zäsur zu "heute" verläuft, ist schwierig zu sagen. Ebenso wie schwierig ist, einen Grund dafür zu benennen, dass der Blick zurück ein wehmütiger ist. Eine Antwort kann wohl nur dann formuliert werden, wenn sie uns alle, also die gesamte Universität, nicht nur die Professoren, deren Abwesenheit vom gesellschaftspolitischen Diskurs nunmehr in erhöhter Frequenz beklagt wird, in den Blick nimmt. Ja, es stimmt: Professoren an heimischen Hochschulen sind heute mit willkürlichen Publikationskennzahlen, mantraartig vorgetragenen Exzellenzansprüchen in der Forschung, selbstzwecklichen Innovationsanliegen in der Lehre und wenig reflektierten Internationalisierungsstrategien Anforderungen ausgesetzt, die "Muße und Präsenz", wie sie von Spiekermann vermisst werden, und damit vielleicht auch reflektiertem Engagement wenig Raum lassen. Das ist mühsam. Auch und insbesondere, weil alle Beteiligten wissen, dass so zwar Potemkin'sche Dörfer, aber eben keine Akademien errichtet werden, die als Hort gelebter Intellektualität und lebendigen Aktivismus dienen könnten.

Aber es ist genau dieses Wissen, das die Professoren der Hohen Schulen keineswegs bloß als Opfer einer unabwendbaren Entwicklung begreifen lässt. Vielfach haben wir uns all dem (und anderem) willfährig ergeben, weil es allzu bequem, vorderhand egal, vielleicht sogar nützlich war oder auch weil wir manchmal auf das Florianiprinzip gehofft haben. Und so haben wir oft bereits inneruniversitär jenen Aktivismus vermissen lassen, dessen Abwesenheit in der außerakademischen Realität nun beklagt wird.

Mehr noch: Wir waren nur allzu gerne bereit, den zunehmenden Mangel an "Muße und Präsenz" konsequent an unsere Studierenden weiterzugeben. Wir haben mit großem Engagement standardisiert und objektiviert und uns mit ebenso großem Verständnis dem Diktat der unmittelbaren ökonomischen Verwertbarkeit ergeben. Wir haben zugelassen, dass Wendungen wie "akademische Ausbildung" (!) salonfähig geworden sind, wir haben Curricula entworfen, die die Praxisrelevanz der von uns vermittelten Inhalte in den Vordergrund stellen, um (von Anthropologie bis Zoologie) die "Employability" der Absolventen zu gewährleisten. Wir haben die Unis zu überaus nützlichen Einrichtungen und damit zu überaus braven Einrichtungen gemacht.

Dass unsere Studierenden folgerichtig ihre Sommer damit verbringen, sich von Praktikum zu Praktikum zu schleppen, statt Hannah Arendt oder Charles Bukowski zu lesen, darf uns vor diesem Hintergrund nicht wundern; ebenso wenig, wie uns das beklagte Mindermaß an Aktivismus wundern darf, das von den Universitäten dieses Landes ausgeht.

Ich bin indes nicht so zuversichtlich wie Frau Spiekermann, dass es die "digitalen Tools und Medien" sind, die die Universität als Orte der "Muße und Präsenz" wiedererstehen lassen können. Ich glaube (und das mag naiv sein), dass es Muße und Präsenz braucht, um Muße und Präsenz leben zu können. Das indes setzt in einem ersten Schritt voraus, Muße und Präsenz, gelebte Intellektualität, kurz: akademische Bildung wieder als Wert an sich zu begreifen. Und es setzt voraus, die weiteren Schritte eher in die Richtung einer verklärten Vergangenheit als in die Richtung einer kaum verklärenswerten Zukunft zu setzen.(Christoph Bezemek, 13.3.2018)