Wie vielfältig die peruanische Küche ist, wissen die Bewohner des Landes schon seit Jahrhunderten. Dass diese Küche international seit einiger Zeit hoch im Kurs steht, hat sie Spitzenköchen wie Virgilio Martínez zu verdanken. An ihm kommt man ebenso wenig vorbei wie an seinem Lehrmeister, dem Koch und Unternehmer Gastón Acurio.

Beide haben die Cocina Novoandina, wie die peruanische Nouvelle Cuisine genannt wird, aus dem Winterschlaf geholt und international bekanntgemacht. Gourmets aus der ganzen Welt kommen ins Restaurant Central nach Lima, um dort pulverisiertes Alpakaherz oder Seeigel mit Schwertmuschelschaum zu essen. Mittlerweile gilt die peruanische Küche als eine der besten der Welt.

Virgilio Martínez: Auf der Liste der "World's 50 Best Restaurants" liegt sein Restaurant Central auf Rang fünf.
Foto: apa/afp/bouroncle

STANDARD: Wie wird bei Ihnen aus einer Idee ein Gericht?

Virgilio Martínez: Das fängt immer vor Ort an. Die Geografie ist unsere Richtschnur. Wir haben im Central eine Regel: Es wird nur serviert, was zusammen wächst, die Zutaten teilen sich sozusagen dieselbe Erde. Wir schauen, was in den Flüssen passiert und auf den Feldern wächst. Dann setzen wir uns zusammen und überlegen, welche Farben und Formen ein Gericht annehmen könnte.

STANDARD: Ist es nicht sehr schwierig, nur mit regionalen Zutaten zu arbeiten?

Martínez: Ja, das ist es. Die moderne Küche wird aber immer mehr zu einer Apotheke, wir wollen das anders machen. Ich kann mir alles, was ich brauche, auch aus Kartoffeln oder getrocknetem Chili holen. Wenn ich Gelatine brauche, mache ich sie mir aus Algen.

STANDARD: Es heißt, Sie wollen mit Ihren Gerichten eine Geschichte erzählen. Geht es nicht in erster Linie um den Geschmack?

Martínez: Der Geschmack ist nicht so wichtig wie die Geschichte, die Idee, die Emotion. Wenn ich Ihnen eine Idee serviere und Sie denken darüber nach, dann ist das genauso toll wie der Geschmack. Man isst mit allen Sinnen, dem Intellekt. Eine Pizza kann sehr gut schmecken, aber welche Geschichte erzählt sie?

Erdäpfelvielfalt im Central.
Foto: apa/afp/bouroncle

STANDARD: Warum, denken Sie, kommen die Leute zu Ihnen? Wollen sie genau diese Geschichten erleben?

Martínez: Die Gastronomie in Lima hat sich einen sehr guten Ruf aufgebaut. Das zieht viele an. Wenn man in unser Restaurant kommt, dann will man im tiefsten Sinne herausfinden, worum es in Peru geht.

STANDARD: Und worum geht es?

Martínez: Um traditionelle Gerichte wie Ceviche geht es auf jeden Fall nicht. Wir gehen in den Dschungel, die Berge, die Wüste rund um Lima, holen die Tiere aus dem Meer. Die Leute kommen, um das Unbekannte Perus kennenzulernen.

STANDARD: In Lima kann man für drei Euro ausgezeichnet essen, bei Ihnen zahlt man das Fünfzigfache – fast das Monatsgehalt eines Kellners hier.

Martínez: Darüber habe ich mir früher auch den Kopf zerbrochen. Ich lebe in einem Land, in dem manche nicht genug zum Essen haben, und koche für Reiche. Als ich dann aber in Peru herumgereist bin, habe ich verstanden, dass wir Botschafter für die Leute auf den Feldern sein können. Wir machen Werbung für die peruanische Küche, die Landschaft, unsere Traditionen und Lebensmittel. Die Leute kommen von überall in der Welt ins Central und sehen, dass wir zum Beispiel Erdäpfel in heißer Erde kochen, so wie das Indigene machen.

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Der Dachgarten des Central in Lima.
Foto: Reuters/Bazo

STANDARD: Sie sind aktuell auf Platz fünf der weltbesten Restaurants. Wie wichtig sind solche Rankings?

Martínez: Es ist eine gute Werbung. Vor fünf Jahren kannte uns niemand. Diese Listen können aber auch sehr unfair und subjektiv sein. Wie könnte ich behaupten, ich sei besser als andere Köche. Manche von ihnen haben 20 Jahre Erfahrung mehr als ich.

STANDARD: Gibt es Neid unter Köchen?

Martínez: Ehrlich gesagt kriege ich davon nichts mit. Die Köche, mit denen ich Zeit verbringe, verstehen, was ich hier mache. Wir teilen eine Idee: mit guter Küche den Wandel anzustoßen. In Peru haben wir verstanden, dass wir gemeinsam arbeiten müssen, wenn wir das Land gastronomisch bekanntmachen wollen. Niemand kommt für ein Restaurant. Man kommt für das Paket, das eine Stadt oder ein Land bietet.

STANDARD: Ist Lima die beste Gastrostadt der Welt?

Martínez: Das würde ich nicht sagen. Wir sind vielleicht in den Top fünf. Ich liebe Tokio, San Sebastián, Barcelona, Mexico City.

Das Menü im Restaurant von Virgilio Martínez umfasst 17 Gänge und wird alle drei bis vier Monate gewechselt.
Foto: APA / AFP / Chris Bouroncle

STANDARD: Ihre Frau ist die Chefköchin in Ihrem Restaurant. Trotzdem sind Sie der Star.

Martínez: Das stimmt, darum will sie auch ihr eigenes Restaurant aufmachen. Sie war jetzt zehn Jahre da und ist seit vier Jahren Küchenchefin. Im Moment arbeitet sie an dem Konzept für ein Restaurant in Lima.

STANDARD: Peru ist ein ungleiches Land. Welchen sozialen Hintergrund haben Sie?

Martínez: Als ich ein Kind war, gab es keine Mittelschicht, und ich war Teil der Oberschicht. Dafür bin ich dankbar. In einer Zeit, in der Peru vom Terrorismus geplagt war und Leute auf der Straße starben, durfte ich eine gute Ausbildung genießen. Man konnte im Land nicht viel tun, es war zu gefährlich. Als ich mit 29 zurückkam, war alles anders.

STANDARD: In Ihren Beruf sind sie quasi hineingestolpert.

Martínez: Ja! Mit 17 Jahren wollte ich professioneller Skateboarder werden. Wegen einer Verletzung musste ich aber aufhören. Danach bin ich ins Ausland gegangen. Wenn du reist, brauchst du Geld. Jobs in Restaurants sind am einfachsten zu kriegen, ich habe Austern geöffnet, Berge von Karotten geschält, Teller geputzt. Als ich das erste Mal einem wirklich professionellen Koch zusah, wusste ich: Das will ich auch tun. (Andreas Sator, RONDO, 12.6.2018)

Die "World's 50 Best"-Verleihung 2018 findet am 19. Juni in Bilbao statt.

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