Erdöl ist für westliche, ökologisch und auch sonst aufgeklärte Normalbürger hauptsächlich in der Drogerie Thema: Die Cremes haben bitte mineralölfrei zu sein. Ansonsten hat das "schwarze Gold" zumindest noch einen besseren Ruf als die übel beleumundete Kohle, ein Wort, das ohne den Zusatz "schmutzige" nicht mehr in Gebrauch ist. Anja Kampmanns für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiertes Debüt "Wie hoch die Wasser steigen" beginnt auf einer Ölplattform – und hätte den Preis schon allein deshalb verdient, weil es ihr darin gelingt, einen ganz neuen, ungewohnten Blick auf die Welt zu werfen. Das Wort "Erdöl" hat nach der Lektüre eine andere Bedeutung.

In einer stürmischen Nacht auf einer Ölplattform mitten im Atlantik verliert Wenzel Groszak seinen besten und eigentlich einzigen Freund Mátyás. Die Verantwortlichen des Konzerns haken den Todesfall schnell ab. Ein bedauerlicher Unfall, was sonst?, der nicht weiter untersucht zu werden braucht. Wie nebenbei zeigt Kampmann den Zynismus eines Geschäfts, das Milliarden umsetzt, während die Arbeiter dafür Gesundheit und Leben aufs Spiel setzen (von den Naturkatastrophen ganz zu schweigen). Wenzel ist wie gelähmt. Er macht sich auf den Weg nach Ungarn, zur Familie seines Freundes.

Zerstückelte Erinnerungen

Und immer deutlicher zeigt sich: Es ist nicht nur die Trauer, die ihn wie ein schweres Gewicht zu Boden drückt – es ist das Leben, das er geführt hat, fernab von der Welt, das ihn nun trennt von den Menschen und ihrem Alltag. Seine Erinnerungen sind wie zerstückelt, die Assoziationen springen: Plötzlich befindet er sich in Marokko, am Golf von Mexiko, in Malta. Immer wieder taucht Milena in seinen Gedanken auf, die er im Ruhrpott kennenlernte, mit der er nach Polen ging – und die er dort zurückließ, um auf der Plattform Geld zu verdienen, weil ihrer beider Gehälter nicht einmal reichten, um sich eine Zeitung zu kaufen. Die er zurückließ, erst räumlich und später geistig, weil ihn das Versprechen auf Abenteuer, Gemeinschaft und Reichtum immer weiter hinaus in das Leben auf hoher See trieb.

Kampmann erzählt das in einer eigenwilligen, poetischen Sprache. Man kann nicht einfach hinweglesen über Bilder wie jenes von einer Angst, "dass dieses Dunkel sich aufbäumen würde wie ein Ross aus Kohlenstaub, aus unendlichen Teilen, nicht zu greifen, wie ein leerer großer Acker". Diese so ungewohnt zu denkenden Bilder erzeugen, genau wie die Assoziationen und Gedankensprünge, ein schwer zu fassendes Gefühl von Haltlosigkeit. Genau so muss sich Wenzel fühlen. Wenzel, der manchmal Waclaw genannt wird. Denn nicht nur seine Erinnerungen und Gedanken sind gespalten, auch sein Name ist es: Mal tritt er als Waclaw auf, mal als Wenzel. Er ist nicht mehr auf See – aber an Land kommt er nie wirklich an. Wie jemand, der lange im Gefängnis war, kann er sich nicht mehr einfügen in die Welt "draußen". Er reist immer weiter, zurück in seine Vergangenheit.

In Italien trifft er Alois wieder, der im Ruhrpott gemeinsam mit Wenzels Vater in der Zeche gearbeitet hat. Der sich dort, unter Tage, genauso vom Leben entfremdete wie die Männer auf den Bohrinseln. Ohne das Wort auch nur einmal erwähnen zu müssen, zeichnet Kampmann in den Porträts dieser Männer auch ein unvorteilhaftes Abbild des Kapitalismus: Wie die Konzerne durch den globalen Energiehunger reich werden, während die Arbeiter, geködert mit dem Versprechen auf ein gutes Leben, genau jenes dafür lassen müssen.

Alois, der sich nun wieder Enzo nennt, lebt einsam in den Südtiroler Bergen, die er einst für eine bessere Zukunft verlassen hat. Seine Frau Federica wurde unglücklich in Deutschland, krank. Noch immer züchtet er Tauben und bittet Wenzel, einen der Vögel mit über die Alpen zu nehmen und ihn vom Ruhrgebiet aus zu ihm zu schicken – als könnte er so etwas zurückholen, das immer noch dort oben hängt. Nach einer langen Autofahrt über die Alpen, auf der er ein trampendes altes Ehepaar mitnimmt, das in seiner Symbiose wie die Erinnerung an eine verloschene Möglichkeit erscheint, landet Wenzel schließlich an der Ostseeküste. Und es bleibt nur die Einsicht, dass man zwar immer gehen kann – aber auch zu weit. Ab einem gewissen Punkt gibt es kein Zurück mehr in das Leben, das einem doch einmal gehört hat. (Andrea Heinz, 14.3.2018)