Dirigent Michael Boder hat durch die Musik von Alban Berg am allermeisten gelernt, wie er sagt. Ab Freitag dirigiert er Gottfried von Einems Oper "Der Besuch der alten Dame" im Theater an der Wien.

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Wien – 1956 wurde Friedrich Dürrenmatts schwarze Komödie Der Besuch der alten Dame uraufgeführt. Durch die Verfilmung mit Ingrid Bergman wurde der Schweizer Schriftsteller weltberühmt. Gottfried von Einem lernte das Stück rund um Claire Zachanassian bald nach der Uraufführung kennen: Als junges Mädchen wurde sie vom Kaufmann Ill geschwängert, sitzengelassen und gedemütigt und kehrt nun als "alte Dame" in ihre Heimatstadt zurückkehrt, um grausam Rache zu nehmen. Dürrenmatt selbst schrieb das Libretto für die 1971 an der Wiener Staatsoper uraufgeführte musikdramatische Version, die als soziales Sittenbild noch heute aufzurütteln vermag.

STANDARD: Sehen Sie das Dirigieren mehr als ein Handwerk oder als eine Berufung?

Boder: Musiker zu sein hat immer einen enorm hohen Handwerksanteil. Und, bitte sehr, natürlich sind auch Dirigenten Musiker. Ob es eine Berufung ist? Schon, aber bitte ohne Zölibat!

STANDARD: In Ihrem Repertoire bilden Wagner und Richard Strauss, die klassische Moderne und zeitgenössische Werke die wichtigsten Zentren. War das geplant, oder ist es so gekommen?

Boder: Wie plant man Leben, Veränderung und Interessen? Das scheint mir doch recht unmöglich. Ich hatte das Glück, in die-ses besonders vielfältige Reper- toire hineinwachsen zu dürfen. Schließlich muss man dafür ja auch gewollt werden. Es reicht ja nicht, wenn man es nur selber will. Vielleicht ist es einfach so, dass schwierige Musik leicht zu machen mich mehr interessiert als das schlichte Vollziehen des schon längst Bekannten. Und die Zeitgenossen – na die müssen uns doch faszinieren. Musik darf niemals Museum sein!

STANDARD: Erleben Sie Gottfried von Einems Werk und "Der Besuch der alten Dame" als Musik der Gegenwart oder als bereits historisch gewordenes Phänomen? Worin sehen Sie die Qualitäten von Einems Stil?

Boder: Natürlich ist von Einems Musik auch historisch. Und daher auch so zu "behandeln" und zu hören. Allerdings ist erstens das Drama erschreckend aktuell, und zweitens grabe ich dann lieber im 20. Jahrhundert als im 18. Denn das 20. Jahrhundert scheint ja nicht so recht vergehen zu wollen, wie man allerorten feststellen kann. Also ist auch dieses Werk überaus aktuell. Was seinen Stil betrifft: Man hat ihm Eklektizismus vorgeworfen. Wenn man es Polystilistik nennt, dann klingt es schon eher wie die Vorwegnahme der Postmoderne. Und so wie die Bilder von Mark Rothko neben jenen von Andy Warhol im Museum hängen dürften, so dürfen auch von Einem und Pierre Boulez zur gleichen Zeit Musik machen ...

STANDARD: In Wien haben Sie Uraufführungen von Cerha und Reimann dirigiert. Was unterscheidet sie von von Einem? Gibt es einen gemeinsamen Nenner, unter dem zeitgenössische Musik auf der Bühne "funktionieren" kann?

Boder: Zeitgenössische Musik funktioniert im Theater nur, wenn sie einen Zugang zur Dramatik hat – oder auch diese verweigert, das geht auch! Aber sie muss damit kreativ umgehen. Eigentlich fanden nach Bach oder ab Monteverdi nahezu alle großen musikalischen Neuerungen durch das Theater statt. Gluck, Weber, Wagner, Berlioz, Strawinsky im Ballett, Puccini, Berg und so fort. Das liegt daran, dass das Publikum für Weberns Kammermusik einfach zu klein ist – und dass die Menschen mit Bildern zusammen auch modernste Klänge – vielleicht subkutan – verstehen. Im Film gab es Musik wie die von Helmut Lachenmann sozusagen schon lange. Zwischen Reimann, Cerha und von Einem liegen Welten – wie schön und bereichernd, dass es all das gibt.

STANDARD: Wie häufig sind Sie mit der Sicht der Regisseure, mit denen Sie arbeiten, einverstanden? Gibt es hin und wieder Meinungsverschiedenheiten?

Boder: Mit Regisseuren hatte ich nie Schwierigkeiten. Was möglicherweise daran liegt, dass wir uns frühzeitig einigen und daher nicht während der Endproben streiten müssen. In der Oper geht es um Teamarbeit – nicht um Besserwisserei und Eitelkeit.

STANDARD: Welche Werke waren Ihnen bisher für Ihre persönliche Entwicklung und für Ihre Laufbahn als Dirigent besonders wichtig?

Boder: Für mich persönlich ist Alban Berg der Komponist, durch den ich am meisten über das Hören, Spielen, ja über das Denken gelernt habe. Damit fühle ich mich zwar manchmal recht einsam, aber das macht mir nichts aus.

STANDARD: Welche Musik hören Sie privat?

Boder: Gerne Jazz. (Daniel Ender, 15.3.2018)