Foto: Fide
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Berlin – Ist es die würzige Berliner Luft? Oder doch das Vorbild der fabulösen Opfer, mit denen Googles Entität "Alpha Zero" jüngst Konkurrent "Stockfish", das bisher stärkste Schachprogramm der Welt, das Fürchten lehrte? Was es auch sein mag: Schachfans in aller Welt sind beeindruckt von den grandiosen Kämpfen und hochriskanten Partieanlagen, die das Berliner Kandidatenturnier bisher zu bieten hat.

Russische Symmetrie

Dabei scheint im Spitzenduell der vierten Runde zwischen Wladimir Kramnik und Fabiano Caruana zunächst ein farbloses Remis in der Luft zu liegen. Kramnik eröffnet ein weiteres Mal gegen seine sonstige Gewohnheit mit dem Königsbauern. Caruana antwortet mit der Russischen Verteidigung: Ein stocksolides System, bei dem Schwarz den gegnerischen Aufbau oft viele Züge lang symmetrisch kopiert und darauf hofft, den weißen Anzugsvorteil im Mittelspiel neutralisieren zu können.

Als Kramnik sich im vierten Zug für eine Variante entscheidet, in der die Damen rasch vom Brett verschwinden, rechnen die meisten Beobachter damit, dass Caruana nur ein paar genaue Züge zu finden braucht, um das Spiel auszugleichen und ein leicht verdientes Schwarzremis zu erzielen.

Brett brennt

Aber dann kommt es, wie schon öfters bei diesem Turnier, doch ganz anders. Im 23. Zug lässt sich Kramnik auf eine spekulative Variante ein, die ihm zwar aktive Figuren beschert, seinem Gegner jedoch auch einen brandgefährlichen Freibauern auf g2 verschafft. Wenige Züge später wird klar: Der Ex-Weltmeister hat sich verkalkuliert. Er muss eine Figur opfern und sich in Komplikationen stürzen, um die Aufgabe für den nun auf Gewinn spielenden Caruana so schwierig wie möglich zu gestalten.

Immerhin: Kramnik bekommt zwei Bauern für die Figur, einer davon schafft es ebenfalls auf die vorletzte Reihe, sodass es nun Caruana ist, der einen gegnerischen Fußsoldaten an der Umwandlung in eine Königin hindern muss. Und dem Italo-Amerikaner tickt gnadenlos die Uhr davon. Für die letzten zehn Züge bis zur Zeitkontrolle bleiben ihm nur wenige Minuten – nicht genug, um in dem taktisch komplizierten Endspiel jenen schmalen Grat zu finden, auf dem er die Stellung unter Kontrolle halten und gute Gewinnchancen bewahren könnte.

Kramniks Wende

Als nach dem 40. Zug Spieler, Kommentatoren und Zuschauer erst einmal in Ruhe auf der Toilette waren und sich an Kaffee und Erfrischungsgetränken gelabt haben, dämmert es nach und nach allen Beteiligten: Auf einmal ist es Weiß, der hier auf Gewinn steht. Zu Kramniks Freibauern auf d7 hat sich ein zweiter ambitionierter Infanterist gesellt, der auf der a-Linie seinem Umwandlungsfeld entgegenstrebt. Zwar verfügt auch Caruana inzwischen über zwei Freibauern, aber Kramniks Truppe ist einfach schneller. Er wird Schwarz zur Rückgabe seiner Mehrfigur zwingen, und danach sollte seine Bauernphalanx am Damenflügel dem Russen den Sieg sichern. Damit würde der Ex-Weltmeister dem Feld mit 3½ aus 4 bereits um einen vollen Punkt enteilen.

Allerdings scheinen in der bewussten Stellung viele Wege nach Rom zu führen, und Kramnik steht vor einem Dilemma, das Schachspieler jeder Spielstärke kennen: Er muss aus dem Strauß vielversprechender Möglichkeiten genau eine auswählen, ohne im Vorhinein exakt berechnen zu können, ob die Zugfolge, für die er sich entscheidet, auch wirklich zum Sieg führt.

In diesem Moment begeht der Russe trotz all seiner Routine einen entscheidenden Fehler: Er wendet fast die gesamte ihm nach der Zeitkontrolle zugeschlagene Bedenkzeit von 50 Minuten für die nächsten paar Züge auf – und findet trotzdem nicht die beste Fortsetzung. Mit einem genialen Turmopfer, das auch die vor Ort kommentierenden deutschen Großmeister Niclas Huschenbeth und Ilja Zaragatski nicht auf der Rechnung haben, kontert Caruana den weißen Gewinnversuch. Der Amerikaner droht nun seinerseits, Kramniks König in einem tödlichen Mattnetz zu fangen. So kippt die Partie nach mehr als fünf Stunden Spielzeit zum zweiten Mal.

Spiel auf Verlust

"Ich habe geglaubt, dass ich immer Remis machen kann. Aber ich wollte gewinnen", erklärt ein erschöpfter Wladimir Kramnik in der nachgelagerten Pressekonferenz die weiteren Ereignisse auf dem Brett. "Auf Verlust spielen" wird jene Art von übertriebenem Siegeswillen unter Schachspielern sarkastisch genannt, mit der Kramnik sich nun sein eigenes Grab schaufelt. Selbst als ihm nur noch Sekunden auf der Uhr verblieben sind, zockt der Ex-Weltmeister weiter – und wird bestraft.

Im 59. Zug – einen Zug vor der zweiten Kontrolle, die mit dem rettenden Zuschlag von weiteren 15 Minuten Bedenkzeit verbunden wäre – stellt Kramnik die Partie ein. Er ermöglicht einen Turmtausch auf der Grundreihe, nach dem er Caruanas h-Bauern nicht mehr sinnvoll daran hindern kann, zur Dame zu gehen. Am Ende ist es also doch wieder ein schwarzer Freibauer, der die Partie entscheidet. Kramnik verschleppt die Partie noch ein paar Züge, dann gibt er auf.

Aronjans Comeback, Grischtschuks Angriffswirbel

Lewon Aronjan zeigt sich von seiner spektakulären Drittrundenniederlage gegen Wladimir Kramnik nach dem Ruhetag gut erholt. Der Armenier gewinnt mit den schwarzen Steinen spielend seinerseits mithilfe einer starken Neuerung gegen den bisher glücklos agierenden Sergei Karjakin. Shakhriyar Mamedyarov und Wesley So trennen sich relativ unspektakulär unentschieden. Und Alexander Grischtschuk brennt gegen Ding Liren ein Angriffsfeuerwerk ab, das Kramnik vs. Caruana in puncto Spannung kaum nachsteht. Der Russe opfert einen ganzen Springer für anhaltenden Drohungen gegen den chinesischen Monarchen. Nachdem er einen frühen Knockout verpasst, trudelt die Partie nach spektakulären Verwicklungen letztlich ins Remis aus.

Durch seinen Sieg mit den schwarzen Steinen zieht Fabiano Caruana an Wladimir Kramnik vorbei und führt das Feld nach der vierten Runde mit drei Punkten an, einen halben Punkt vor Kramnik und Mamedyarov. Mit noch zehn zu spielenden Runden scheint der Ausgang des Turniers freilich völlig offen. Nur Sergei Karjakin und Wesley So haben mit je 1 aus 4 vorläufig den Anschluss an das übrige Feld verloren. (Anatol Vitouch aus Berlin, 15.3.2018)